Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 232

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so vermag dieses Aufgebot von abgeschmackter revolutionärer Phraseologie, von „Schlachten“, „Losbrechen des Sturmes“, „Aufstehen des Volkes“ usw., einen wirklichen Sturm leider nicht zu ersetzen. Nur eins kann diese Vergeudung von Kraftworten bewirken: daß sich die Massen an den Glauben gewöhnen, hinter unsern kräftigsten Worten stehe überhaupt nichts, sie seien nicht ernst zu nehmen. Übrigens gab der „Vorwärts“ selbst zu, daß ein preußischer Wahlkampf nicht ein Wahlrechtskampf ist, als er am andern Tage nach der Wahl schrieb: „Der Wahlkampf kann nur die Einleitung und das Vorspiel des Wahlrechtskampfes sein, der alsbald einzusetzen hat!“[1] Leider deuten alle Zeichen darauf hin, daß der 1910 abgebrochene Wahlrechtskampf sowenig „alsbald“ nach den preußischen Wahlen einsetzen wird wie der „alsbald“ nach den Reichstagswahlen verheißene eingesetzt hat.

Ein andres Beispiel, das zu denken gibt, hat ein politisches Ereignis jüngsten Datums geliefert: Es ist der Besuch des russischen Zaren in Berlin.[2] Es ist das erstemal seit der Erdrosselung der Revolution im Zarenreich, daß sich der blutige Henker der russischen Freiheit nach der deutschen Hauptstadt als Gast gewagt hat, nach der Stadt, in der über fünf Wahlkreisen von sechsen die Fahne der Sozialdemokratie weht. Und angesichts einer solchen Provokation hat unsre Partei nicht einen Finger gerührt, nicht den leisesten Protest erhoben. Keine Demonstrationen, keine Volksversammlungen, ja nicht einmal ein würdiger Artikel im Zentralorgan hat die Schmach dieses Besuchs von der deutschen Arbeiterschaft abgewehrt! Ein schüchternes, höchst diplomatisch eingewickeltes Gestammel in einem kleinen Entrefilet des „Vorwärts“ – das war alles, was die Viermillionenpartei gegenüber dem Besuch des Zaren aller Reußen in ihrer Hauptstadt geleistet hat![3] Dabei hat der „Vorwärts“ selbst in seiner Notiz erklärt, der Besuch des Zaren sei nicht eine bloße Familienangelegenheit der Hohenzollernschen Braut, sondern eine politische Angelegenheit, bei der die auswärtige Politik sicher mit im Spiel sei. Und darauf schwieg unsre Partei. Es ist dies eine Unterlassung im Kampfe gegen den Militarismus und die Reaktion, eine Unterlassung gegenüber den Pflichten internationaler Solidarität mit den russischen Arbeitern, für die jede Entschuldigung, ja jede halbwegs annehmbare Erklärung fehlt. Wenn unsre Parteiführer im Reichstag versprechen, im Kriegsfall gegen

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[1] Unter der Dreiklassenschmach. In: Vorwärts, Nr. 119 vom 17. Mai 1913.

[2] Im Mai 1913 war Wilhelm II. anläßlich einer Hochzeitsfeier mit dem Zaren Nikolaus II. und dem englischen König Georg V. in Berlin zusammengetroffen.

[3] Siehe Der Zar in Berlin. In: Vorwärts, Nr. 124 vom 22. Mai 1913.