Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 231

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An Zündstoff fehlt es heute in Deutschland wahrhaftig nicht. Man braucht nur zwei Momente aus ganz verschiedenen Gebieten herauszugreifen. Zunächst das preußische Wahlrecht. Als im Frühjahr 1910 der Wahlrechtskampf endlich die Gestalt einer großartigen Massenaktion angenommen hatte, als es uns gelungen war, den Acheron in Bewegung zu setzen[1], da wurde die Aktion bewußt von den leitenden Instanzen auf einmal abgebrochen[2]. Die Straßendemonstrationen wurden, kaum daß sie als neues Kampfmittel in Preußen errungen waren, entgegen den elementarsten Anforderungen jeder Kampfstrategie, an den Nagel gehängt, der Acheron wurde nach Hause geschickt mit der Weisung, sich bis zu den Reichstagswahlen hübsch still zu verhalten. Auf die Reichstagswahlen wurden alle Blicke, alle Hoffnungen, alles Interesse zwei Jahre im voraus konzentriert. Nach den Reichstagswahlen wurde „eine ganz neue Situation“ verheißen und für den preußischen Wahlrechtskampf in ähnlichen geheimnisvoll-vagen Phrasen ein neues glänzendes Kapitel in Aussicht gestellt.

Nun, die Reichstagswahlen sind längst vorbei[3], die „ganz neue Situation“ hat sich ebenso wie die schnellgebackene Theorie vom „neuen Liberalismus“ als ein Windei erwiesen, und der preußische Wahlrechtskampf ist seit 1910, also seit drei vollen Jahren, in Stillstand geraten. In letzter Stunde sollten alle Erwartungen wieder auf die preußischen Landtagswahlen konzentriert werden. Das Ergebnis der Landtagswahlen mit seinen 10 Mandaten[4] hat indes an seinem Teil sowenig die allgemeine Situation und die Aussichten des preußischen Wahlrechts erschüttert wie die Reichstagswahlen mit den 110 Mandaten. Es hat sich noch einmal erwiesen, daß auf dem Wege der parlamentarischen Aktion allein die Hochburg der Reaktion nicht erschüttert werden kann. Und wenn unser Zentralorgan die Wähler zur Pflichterfüllung in Ausdrücken rief, die besser auf den letzten Barrikadenkampf in der Pariser Junischlächterei des Jahres 1848 gepaßt hätten als auf den Gang zum preußischen Wahllokal,

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[1] Im Frühjahr 1910 hatte sich in ganz Deutschland eine Massenbewegung für die Erringung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts zum preußischen Landtag entwickelt. Rosa Luxemburg verteidigte die Anwendung des politischen Massenstreiks als objektiv notwendiges Kampfmittel gegenüber der Absicht des Parteivorstandes, die Wahlrechtsbewegung in den alten Bahnen des Parlamentarismus zu belassen, um angeblich die Reichstagswahlen 1912 nicht zu gefährden.

[2] Nachdem der sozialdemokratische Parteivorstand, der Geschäftsführende Ausschuß der preußischen Landeskommission und die Redaktion des „Vorwärts“ im März 1910 beschlossen hatten, den Massenstreik nicht im „Vorwärts“ zu erörtern, um angeblich den Elan der Massen nicht zu hemmen, wurde die Wahlrechtsbewegung nach den Demonstrationen im April 1910 abgebrochen, und die Massen wurden auf die nächsten Reichstagswahlen und den parlamentarischen Kampf vertröstet.

[3] Die Reichstagswahlen wurden am 12. Januar 1912 durchgeführt. Die Sozialdemokratie konnte dabei 4,2 Millionen Stimmen gegenüber 3,2 Millionen im Jahre 1907 erringen und die Zahl ihrer Mandate von 43 auf 110 erhöhen. Sie wurde damit die stärkste Fraktion des Reichstags.

[4] Bei der Wahl der Abgeordneten zum preußischen Abgeordnetenhaus am 3. Juni 1913 hatte die Sozialdemokratische Partei auf Grund des reaktionären Dreiklassenwahlrechts trotz der hohen Stimmenzahl von 775 171 (28,38 Prozent) nur 10 Mandate erhalten, während dagegen beispielsweise die Deutschkonservative Partei bei nur 402 988 (14,75 Prozent) Stimmen 147 Mandate erhielt.