Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 197

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1893 genügte ein spontaner Streik von 250000 Arbeitern, damit die Kammer die seit zwei Jahren in der Kommission versumpfte Wahlrechtsreform binnen 24 Stunden, in einer einzigen langen Sitzung, zur Entscheidung brachte. Jetzt wurde der Streik der 400 000, nach neun Monaten Vorbereitung, nach äußersten materiellen Opfern und Anstrengungen der Arbeiterklasse, nach Verlaufe von zehn Tagen abgebrochen, ohne etwas andres erreicht zu haben als eine unverbindliche Zusage einer unverbindlichen Kommission ohne gesetzgebende Kraft, die nach einer „einheitlichen Formel“ für das Wahlrecht suchen darf.

Daß dies so vage und gewundene Ergebnis keinen glänzenden Sieg bedeutet und jedenfalls zu der Unsumme von Anstrengungen, Opfern und Vorbereitungen in keinem Verhältnis steht, darüber täuschen sich auch unsre belgischen Genossen gar nicht. Kein einziger von den Parteiführern machte auf dem Parteitag vom 24. April den Versuch, die Resolution des Parlaments über die besagte Kommission als einen namhaften politischen Sieg hinzustellen. Im Gegenteil, sie alle waren bemüht, das Schwergewicht der Bilanz über den zehntägigen Kampf nicht auf das parlamentarische Resultat, sondern auf den Verlauf des Generalstreiks selbst und seine moralische Bedeutung zu legen. „Drei Gesichtspunkte“, sagte Vandervelde (nach dem Bericht des „Vorwärts“), „kommen bei der Beurteilung des Generalstreiks in Frage. Der erste, der parlamentarische, ist am wenigsten wichtig.“[1] Die beiden andern aber seien: das politische Resultat, das in der Gewinnung der öffentlichen Meinung bestehe, und der soziale Gesichtspunkt, der in der Machtentfaltung des Proletariats und in dem friedlichen Charakter des Generalstreiks liege. „Wir kennen jetzt das Mittel“, rief Vandervelde, „das das Proletariat anwenden kann, wenn ihm sein Recht von der herrschenden Gewalt vorenthalten wird.“[2] Und Jules Destrèe ging sogar so weit, die ganze Frage nach dem direkten Resultat des Streiks als „parlamentarische Kleinlichkeit“ abzutun:

„Warum übersehen Sie über den parlamentarischen Kleinlichkeiten und den Nuancen ministerieller Erklärungen die Hauptsache? Beachten Sie doch die Hauptsache, die jedermann sehen kann! Die prachtvolle Begeisterung, den Mut, die Disziplin unserer Bewegung.“[3]

Nun ist die ausgezeichnete Haltung der belgischen Arbeitermasse in dem letzten Generalstreik nichts weniger als eine Überraschung gewesen.

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[1] Der belgische Parteitag. In: Vorwärts, Nr. 100 vom 26. April 1913.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda.