Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 170

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Der Masse der belgischen Bourgeoisie graute vor der gemeinsamen Herrschaft im Parlament mit dem sozialistischen Proletariat so sehr, daß sie bei den Wahlen in hellen Scharen ins Lager der Reaktion, des Klerikalismus überlief! Das ist die schöne Frucht der zehnjährigen Bündnispolitik zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus. Während die Arbeiterpartei aus Rücksicht auf ihre bürgerlichen Freunde die Entfaltung der selbständigen Aktion der Arbeitermassen erstickte und die scharfe, prinzipielle Klassenaufklärung dämpfte, stürzte sich die Bourgeoisie aus Angst vor ihren proletarischen Freunden der Reaktion in die Arme. Als Mittel, die klerikale Herrschaft zu überwinden, wie als Mittel, die Wahlreform zu erringen, hat sich die Blockpolitik als ein Messer ohne Heft und Klinge erwiesen. Im gegenwärtigen Augenblick steht die Arbeiterpartei in beiden Fragen so weit vom Ziele wie vor zehn Jahren, und nun muß sie wieder auf den Boden zurückkehren, den sie nie hätte verlassen sollen: auf den Boden der selbständigen revolutionären Massenaktion des Proletariats, die allein die Reaktion zu schlagen imstande ist, wenn sie alle ihre innere Energie und alle proletarischen Machtmittel ohne Scheu und ohne Rücksichtnahme in Anwendung bringt.

Die belgischen Wahlen sind eine harte Lehre. Aber was in Belgien passiert, ist eine Erscheinung von allgemeinem, internationalem, typischem Charakter. Allüberall zeigt sich immer mehr, daß der bürgerliche Liberalismus nur noch das verwaschene Aushängeschild einer morschen Ruine ist, in der die nackte Reaktion wohnt. Indem das Proletariat auf diesen Liberalismus baut, auf die eigene Machtentfaltung verzichtet und all sein Hoffen ausschließlich aufs Parlament setzt, begibt es sich selbst seines Einflusses und raubt auch seiner parlamentarischen Aktion die Kraft. Es ist eine Lebensfrage für die Arbeitermassen, sich darüber vollständig klarzuwerden, daß heutzutage keine ernste, fortschrittliche Reform mehr auf rein parlamentarischem Wege erreicht werden kann. Welche Gestalt und welche Bedeutung heute eine ausschließlich parlamentarische Opposition selbst bei äußerster Zuspitzung des Kampfes gewinnt, das zeigen die jüngsten Vorgänge in Ungarn.[1] Hier erleben wir gleichfalls eine Bündnispolitik und einen gemeinsamen Feldzug der Sozialdemokratie mit der Opposition. Was ist aus dem Feldzug im Parlament geworden? Eine Hanswurstiade mit wüstem Geschrei, Tollhäuslerszenen und einem blöd-

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[1] Anfang Juni 1912 hatte die Annahme einer Wehrvorlage gegen die Stimmen der oppositionellen Parteien und ein unzureichender Entwurf einer Wahlrechtsreform im ungarischen Abgeordnetenhaus schwere Tumulte verursacht. Polizei hatte wiederholt oppositionelle Abgeordnete gewaltsam aus dem Saal geschleppt. Um dem Widerstand der Opposition zu begegnen, wurden die Beratungen des Abgeordnetenhauses bis September 1912 vertagt.