Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 169

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klerikalen Reaktion, die am Ruder war, hoffte man in der Weise fertig zu werden, daß die sozialistisch-liberalen Verbündeten allmählich sogar auf Grund des geltenden Schandwahlrechts die Majorität im Parlament erringen sollten. In der Tat schmolz die klerikale Mehrheit von Wahl zu Wahl zusammen: 1902 betrug sie 24 Stimmen, 1910 nur noch 6. Was schien einfacher, als den vorgezeichneten Weg weiter zu verfolgen! Die diesjährigen Wahlen abwarten, gemeinsam mit den Liberalen in den Wahlkampf eintreten, in diesem Wahlkampf die gemeinsame Front gegen die Klerikalen richten, und dann – die Mehrheit im Parlament einmal erreicht, die klerikale Herrschaft gestürzt – wird das gleiche Wahlrecht – das Ziel so heißer und so langer Kämpfe – glatt auf parlamentarischem Wege, durch Beschluß der liberal-sozialistischen Mehrheit, eingeführt.

Eine hübsche Aufmachung das, klar, einfach und übersichtlich wie eine Schneiderrechnung und „praktisch“ in höchstem Maße. Schade nur, daß auf diese schlaue Taktik, wie auf alle Stücke solcher „praktischen“ Staatsmannskunst, die die Massenaktion ausschaltet, die Worte passen, die der Dichter von Rolands Stute sagt: „Wunderschön war die Stute, sie war aber leider tot.“ Die belgischen Wahlen kamen, und ihr Ergebnis war – ein krachender Bankrott der ganzen Blocktaktik.[1] Die klerikale Reaktion wurde nicht bloß nicht zerschmettert, sondern – o Graus! – sie ist erstarkt und auf 16 bis 20 Stimmen Mehrheit gewachsen ins Parlament zurückgekehrt. Die Liberalen sind zusammengeschmolzen, und – das schlimmste – überall sind auch die Stimmen des sozialistisch-liberalen Blocks zurückgegangen, der meist gemeinsame Kandidaten aufgestellt hatte. Stimmen und Mandate hat die Sozialdemokratie nur in den paar Wahlkreisen gewonnen, wo sie selbständig aufgetreten ist. Der Eindruck war niederschmetternd. Kein Wunder, daß die erbitterten belgischen Arbeiter vor Schmerz und Wut weinten, auf die Straße stürzten, demonstrierten und spontan in einen Massenstreik eintraten, ohne auf ihre Führer mehr hören zu wollen.

Wie ist die verblüffende Niederlage der liberal-sozialistischen Taktik in Belgien zu erklären? Höchst einfach. Dadurch, daß die schöne Rechnung, wie immer die Rechnungen der sogenannten „praktischen“ Politik, ein Loch hatte: Sie rechnete nicht mit dem wichtigsten Faktor – mit dem unversöhnlichen Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat.

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[1] Bei den Neuwahlen zum belgischen Parlament am 2. Juni 1912 hatten die Klerikalen einen Sieg über die zu einem Block zusammengeschlossenen Sozialisten und Liberalen errungen. Dieses unerwartete Resultat, hervorgerufen durch den Übergang eines Teiles der Liberalen, besonders der Großindustriellen, ins klerikale Lager, rief eine gewaltige Empörung unter der Bevölkerung hervor und führte in verschiedenen Städten zu Unruhen und Streiks.