Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 168

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tischen Abgeordneten ins Parlament ein. Auf die sozialistischen Abgeordneten hat die Luft des bürgerlichen Parlaments die bekannte Wirkung ausgeübt. Es kam bei ihnen die Idee auf, daß die Sozialisten nunmehr gemeinsam mit den belgischen Liberalen gegen die herrschende klerikale Reaktion um das gleiche Wahlrecht zu kämpfen hätten. Die erste Feuerprobe hatte die neue Taktik im Jahre 1902 zu bestehen.[1] Was zeigte sich aber da? Die Arbeiterklasse war durch das Bündnis mit den liberalen Bourgeois gelähmt. An einen ernsten Massenstreik, wie zehn Jahre zuvor, durfte jetzt nicht mehr gedacht werden, denn die liberalen Blockbrüder sind ja als Fabrikanten, Grubenbesitzer und Kaufleute die geschworenen Feinde dieses Kampfmittels. Jetzt mußte der Schwerpunkt des Kampfes um das gleiche Wahlrecht ins Parlament selbst verlegt werden. Dort sollte die Redekunst der liberalen und sozialdemokratischen Abgeordneten die herrschende klerikale Partei erschüttern und zum Nachgeben zwingen. Den Arbeitermassen aber wurde dabei nur die Rolle des Chores zugewiesen, der zu der Musik im Parlament auf der Straße eine bescheidene und maßvolle Begleitung machte. Die Arbeiterdemonstrationen sollten nur als Schreckmittel auf die Regierung wirken, sollten Theaterdonner sein, aber beileibe nicht zu einer ernsten Aktion werden, denn sonst wäre ja der Schreck den liberalen Helden selbst ins Gebein gefahren. So kam eine Aktion zustande, die von vornherein eine Halbheit war und den kläglichsten Zusammenbruch erlebte, den man sich vorstellen kann. Die Arbeiter begannen zu demonstrieren, traten in einen Massenstreik ein, die Führer der Sozialdemokratie beeilten sich aber, die Massen sofort nach Hause zu schicken. Kaum war dies geschehen, so verlor jedoch selbstverständlich auch die Aktion im Parlament jede Kraft. Die Reaktion lachte sich ins Fäustchen, und die Wahlreform scheiterte jämmerlich.

Doch damit waren die fatalen Folgen des Bündnisses noch lange nicht erschöpft. Da die Führer der belgischen Sozialdemokratie trotz der bitteren Lektion von ihrer Taktik des Blocks mit den Liberalen nicht zurücktraten, so wirkte diese Lektion nur entmutigend und demoralisierend. Nun, nach dem Zusammenbruch der Bewegung im Jahre 1902, wagte man überhaupt kein energischeres Vorgehen mehr. Die Hoffnungen auf eine Wahlreform wurden nur noch ausschließlich ins Parlament verlegt. Es kam eine neue, verbesserte Auflage der Blocktaktik zur Anwendung. Mit der

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[1] Am 14. April 1902 hatte in Belgien ein Massenstreik von etwa 300 000 Arbeitern zur Verbesserung des Wahlrechts begonnen. Er war am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei, die mit den Liberalen eine Allianz eingegangen war, abgebrochen worden, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.