Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 161

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Ehemals, in den schönen Zeiten des vormärzlichen Absolutismus, hieß es gewöhnlich von dem ganzen arbeitenden Volke, es sei „noch nicht reif“ zur Ausübung politischer Rechte. Heute kann das nicht von den proletarischen Frauen gesagt werden, denn sie haben ihre Reife für die Ausübung politischer Rechte erwiesen. Weiß doch jeder, daß ohne sie, ohne die begeisterte Mithilfe der Proletarierinnen, die deutsche Sozialdemokratie am 12. Januar[1] nimmermehr den glänzenden Sieg errungen, die 41/4 Millionen Stimmen erhalten hätte. Aber gleichwohl, das arbeitende Volk hat jedesmal seine Reife zur politischen Freiheit durch eine siegreiche revolutionäre Massenbewegung erweisen müssen. Erst wenn das Gottesgnadentum auf dem Thron und die Edelsten und Besten der Nation die schwielige Faust des Proletariats fest auf dem Auge und sein Knie auf ihrer Brust fühlten, erst dann kam ihnen auch blitzartig der Glaube an die politische „Reife“ des Volkes. Heute sind die Frauen des Proletariats an der Reihe, ihre Reife dem kapitalistischen Staate zum Bewußtsein zu bringen. Das geschieht durch eine andauernde, machtvolle Massenbewegung, in der alle Mittel des proletarischen Kampfes und Druckes in Anwendung gebracht werden müssen.

Um das Frauenwahlrecht handelt es sich als Ziel, aber die Massenbewegung dafür ist nicht Frauensache allein, sondern gemeinsame Klassenangelegenheit der Frauen und Männer des Proletariats. Denn die Rechtlosigkeit der Frau ist heute in Deutschland nur ein Glied in der Kette der Reaktion, die das Leben des Volkes fesselt, und sie steht im engsten Zusammenhang mit der anderen Säule dieser Reaktion: mit der Monarchie. In dem heutigen großkapitalistischen, hochindustriellen Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts, im Zeitalter der Elektrizität und der Luftschiffahrt ist die politische Rechtlosigkeit der Frau genau ein so reaktionäres Überbleibsel alter, abgelebter Zustände wie die Herrschaft des Gottesgnadentums auf dem Throne. Beide Erscheinungen: das Instrument des Himmels als tonangebende Macht des politischen Lebens und die Frau, die züchtig am häuslichen Herde saß, unbekümmert um die Stürme des öffentlichen Lebens, um Politik und Klassenkampf, sie beide wurzeln in den vermorschten Verhältnissen der Vergangenheit, in den Zeiten der Leibeigenschaft auf dem Lande und der Zünfte in der Stadt, In diesen Zeiten waren sie begreiflich und notwendig. Beide, Monarchie wie Rechtlosigkeit der Frau, sind heute durch die moderne kapitalistische Entwicklung entwurzelt, zur lächerlichen Karikatur auf die Menschheit geworden. Sie bestehen jedoch in der heutigen modernen Gesellschaft

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[1] Die Reichstagswahlen wurden am 12. Januar 1912 durchgeführt. Die Sozialdemokratie konnte dabei 4,2 Millionen Stimmen gegenüber 3,2 Millionen im Jahre 1907 erringen und die Zahl ihrer Mandate von 43 auf 110 erhöhen. Sie wurde damit die stärkste Fraktion des Reichstags.