Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 15

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/15

weit ernster ist als alle Komplikationen, die uns die leidige Marokkoaffäre seit Jahren gebracht hat.“[1]

Dies war in dem Moment geschrieben, als die englischen Reden und Preßstimmen die internationale Situation aufs äußerste verschärften. Aber die Politik der Arbeiterklasse darf nicht die Sprünge der bürgerlichen Presse mit jeder neuen Telegraphenmeldung mitmachen. Sie muß, unbekümmert und unbeirrt durch das Hin- und Herschieben der Kulissen auf dem weltpolitischen Theater und um die ganze schale Mache, ihren eignen Wegweisern folgen. Hat man einmal den Ernst der Situation erkannt, dann darf sich die Arbeiterschaft nicht durch „beruhigende Nachrichten“ in ihrer Wachsamkeit einschläfern lassen. Im Gegenteil, es ist jetzt Pflicht unsrer Partei, eine umfangreiche, systematische Agitation gegen das weltpolitische Abenteuer in Marokko zu entfalten. Da kann es aber bei der Berliner Demonstration, die wir zufällig den Gewerkschaften verdanken, nicht sein Bewenden haben. Hier gehört die umfassende Initiative dem Parteivorstand, der im ganzen Lande durch Versammlungen, Demonstrationen, Flugblätter eine nachdrückliche Aktion der Sozialdemokratie gegen die Weltpolitik und den Militarismus einzuleiten berufen ist.

Die Zurückhaltung unsrer obersten Parteibehörde hat aber noch eine andre wichtige Unterlassung verschuldet. Die Berliner Demonstration der proletarischen Verbrüderung Deutschlands mit Frankreich war veranstaltet aus Anlaß einer Abordnung der französischen Gewerkschaften nach Berlin. Daß unsre Gewerkschaften, die auf dem Boden der sozialdemokratischen Auffassung stehen, diese Demonstration ausführten, hat schließlich nur eine Unvollständigkeit verursacht, die am Ende hingehen mag. Auf der andern Seite aber sind dadurch als die Vertreter, als einzige Vertreter des französischen Proletariats Gewerkschaftsführer aufgetreten, die in ihrer grundsätzlichen Auffassung, in ihrer Taktik, in ihrem praktischen Wirken nicht nur mit der deutschen Gewerkschaftsbewegung, sondern auch mit der Sozialistischen Partei Frankreichs, und zwar mit allen Richtungen der geeinigten Partei, scharf auseinandergehen. Die Generalkonföderation der Arbeit[2], die in Berlin vertreten war, steht auf rein anarchosyndikalistischem Standpunkt, sie betrachtet den politischen Kampf der Arbeiterklasse als eine „bourgeoise“ Verirrung und steuert durch rein gewerkschaftliche Aktion vermittels der „direkten Aktion“, d. h. des famosen „Generalstreiks“, geradenwegs auf die soziale Revolution los. Daraus folgt selbstverständlich nicht, daß man die internatio-

Nächste Seite »



[1] Die Marokkoaffäre. Neue Gewitterwolken! In: Vorwärts (Berlin), Nr. 172 vom 26. Juli 1911.

[2] Gemeint ist die Confédération Générale du Travail (CGT).