Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 16

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nale Solidarität mit diesen Gewerkschaften, die nach eignen Angaben 600 000 französische Proletarier umfassen, verleugnen sollte. Im Gegenteil, wir müssen mit ihnen rechnen und möglichst mit ihnen gemeinsam vorzugehen suchen, wie dies auch notgedrungen das Streben der französischen Sozialisten im allgemeinen, der guesdistischen Richtung[1] jetzt insbesondere ist. Unsre Gewerkschaften haben also von ihrem Standpunkt völlig korrekt gehandelt, wenn sie – bei aller Betonung der prinzipiellen und taktischen Meinungsverschiedenheiten – mit den französischen Syndikalisten demonstrativ fraternisierten. Aber im Interesse des Sozialismus liegt es jedenfalls nicht, die anarchistischen Gewerkschafter eines Landes, in dem der Sozialismus eine Macht ersten Ranges ist, als die einzigen Vertreter der Arbeiterklasse öffentlich zu feiern und zum Gegenstand einer enthusiastischen Kundgebung deutscher Arbeiter diese Freunde Hervés zu machen, während Männer wie Guesde, Vaillant, Jaurès der Demonstration fernbleiben. Ja, es kommt noch besser. Denn bei der Berliner Demonstration bleibt es nicht. Die deutschen und die französischen Gewerkschaften werden demnächst eine weitere Demonstration in Frankreich[2] unter Teilnahme spanischer und englischer Arbeitervertreter veranstalten, d. h., sie werden genau dasjenige ausführen, was die französischen Sozialistenführer vor einigen Wochen vorschlugen[3], was aber durch die ablehnende Haltung des deutschen Parteivorstandes nicht zustande kam. Vielleicht werden bei dieser zweiten Demonstration Vertreter des französischen Sozialismus und der deutschen Sozialdemokratie wieder als Gäste der Gewerkschaften auftreten dürfen – bei einer Aktion, die von Rechts wegen unter der Leitung und Initiative der sozialistischen Parteien geschehen sollte. Dadurch, daß unser Parteivorstand die Initiative Vaillants und des Internationalen Sozialistischen Büros zu einer internationalen Zusammenkunft ausschlug – ebenso wie er die Einladung zu der Demonstration der Pariser Genossen ohne Folgen gelassen hatte[4] – mit der altklugen und

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[1] Gemeint ist die revolutionäre marxistische Richtung unter Jules Guesde innerhalb der Parti Socialiste (Section Française de l’Internationale Ouvrière) [Sozialistische Partei (Französische Sektion der Arbeiterinternationale)], zu der sich im April 1905 die Parti Socialiste de France (Sozialistische Partei Frankreichs) und die Parti Socialiste Française (Französische Sozialistische Partei) zusammengeschlossen hatten.

[2] Am 4. August 1911 führte die CGT in Paris eine Kundgebung durch, an der neben Mitgliedern der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands und des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Vertreter englischer, spanischer und holländischer Gewerkschaften teilnahmen.

[3] Am 12. Juli 1911 hatte die französische Sozialistische Partei in Paris eine Protestversammlung gegen das Marokkoabenteuer der imperialistischen Mächte durchgeführt. Der Aufforderung des Nationalrats der französischen Partei, Delegierte zu dieser Demonstration zu schicken, war der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nicht nachgekommen, sondern hatte nur eine von den Vorstandsmitgliedern unterzeichnete Depesche gesandt.

[4] Französische Sozialisten hatten Anfang Juli 1911 vorgeschlagen, gegen das imperialistische Marokkoabenteuer eine internationale Protestkundgebung durchzuführen. Siehe dazu S. 5–11.