Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 137

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Glauben an einen „neuen Liberalismus“, an eine „entschieden liberale Linke“, an die Zerschmetterung des Schwarz-Blauen Blocks vor. Der Verteidiger sagt selbst wörtlich:

„Bis zum 12. Januar hatte wohl der größte Teil von uns, sicher alle jetzigen Kritiker des Abkommens – was kein Vorwurf sein soll, wir waren der gleichen Ansicht –, erwartet, eine starke Zunahme unserer Stimmenzahlen und unserer Mandate werde die gesamten bürgerlichen Elemente in einer Phalanx gegen uns vereinigen. Das entsprach dem Gang der ökonomischen Entwicklung, die den Gegensatz zwischen der bürgerlichen und proletarischen Welt zusehends verschärft, es entsprach auch den bisherigen Erfahrungen bei den Stichwahlen.“[1] [Hervorhebungen – R. L.]

Also wohlgemerkt: Punkt bis zum 12. Januar glaubten auch „wir“, d. h. der Verteidiger des Parteivorstands, an die eine reaktionäre Masse, und dies entsprach „dem Gang der ökonomischen Entwicklung“ und den „bisherigen Erfahrungen“. Bis zum 12. Januar war also von „neuem Liberalismus“ weit und breit nicht eine Spur zu entdecken. Erst nach dem 12. Januar geschah etwas „Erstaunliches“:

„Wie groß unser Erstaunen, als die Fortschrittler diesmal entgegen allen Erwartungen durch unseren überwältigenden Wahlsieg nicht ins Bockshorn gejagt wurden, nicht in den Ruf nach Sammlung aller bürgerlichen Elemente zur Eindämmung der roten Sintflut einstimmten, sondern uns ein Wahlabkommen anboten!“[2] [Hervorhebung – R. L.]

Diese Tatsache, daß die Fortschrittler ohne Veranlassung von unsrer Seite uns das Wahlabkommen antrugen, wiederholt der Verteidiger noch mehrere Male, denn hier liegt der Schwerpunkt der Sachlage. Diese bloße Tatsache änderte mit einem Schlage die Situation, sie verriet das Keimen des „neuen Liberalismus“ im Busen der Fortschrittler und enthüllte sie als wahre Helden:

„Aus bloßem Mandatshunger läßt sich das Stichwahlabkommen der Fortschrittlichen Volkspartei nicht erklären. Im Gegenteil, sie gefährdete dadurch jene Mandate, zu deren Gewinnung sie der konservativen Hilfe bedurfte. Es war nur erklärlich dann, wenn den Fortschrittlern der Kampf gegen den Schwarz-Blauen Block mehr am Herzen lag als die Eroberung von Mandaten.“[3]

Der Verteidiger des Parteivorstands will geflissentlich von der schlich-

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[1] Unser Stichwahlabkommen. In: Vorwärts, Nr. 55 vom 6. März 1912.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda.