Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 136

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daß es auch wetterharte Gemüter verlocken konnte. Es fragt sich bloß, welche Circe hat unsern Parteivorstand mitsamt seinem Verteidiger behext, daß sie mitten am hellichten Tage so seltsame Bilder erblicken konnten? Wiemer und Kopsch – „aufs tiefste verfeindet“ mit der Reaktion! Fischbeck und Müller-Meiningen, ja, die Hälfte der Fraktion Drehscheibe[1] Arm in Arm mit uns im Kampfe gegen die Reaktion! Und das alles nach dem Hungerzolltarif[2], nach den Hottentottenwahlen[3], nach dem Bülow-Block[4], nach der Nachwahl in Gießen-Nidda[5], nach der Reichsversicherungsordnung[6]! Vergessen mit einem Schlage der Militarismus, die Monarchie, die Kolonialpolitik, indirekte Steuern, Sozialpolitik, Imperialismus – die ganze reichsdeutsche Politik mit ihren heiligsten Traditionen steht auf dem Kopf, denn plötzlich hat sich zwischen dem Liberalismus und der Reaktion ein Abgrund aufgetan, „jedes junkerliche Regime“ ist unmöglich geworden, und die Sozialdemokratie bildet die Mehrheit in der Mehrheit des Reichstags, beherrscht also die herrschende Politik!

Und was ist die Zauberrute, durch die plötzlich, in 24 Stunden, diese völlige Umwälzung der deutschen Politik vollzogen werden sollte? Eine geheime Abmachung mit einer Handvoll fortschrittlicher Führer, ein Wahltrick, eine parlamentarische Kulissenschieberei! Man muß gestehen, daß Genosse Kolb in Baden es nie so herrlich weit gebracht hat in der schöpferischen Phantasie der Großblockpolitik[7] noch im kindlichen Glauben an die magische Wirkung parlamentarischer Kunststücke.

Jede noch so phantastische politische Spekulation muß irgendeinen Anhaltspunkt in wirklichen Vorgängen, in Tatsachen des realen Lebens haben. Der Tatbestand, der der obigen Spekulation des Parteivorstands zugrunde lag, war nach der Erklärung seines offiziellen Verteidigers im „Vorwärts“ bescheiden genug: Es war dies eben das Angebot des Stichwahlabkommens, das uns von fortschrittlicher Seite gemacht wurde! Vorher, bis zum Tage der Hauptwahlen[8], lag nicht der geringste Anlaß zum

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[1] Siehe S. 120, Fußnote 2.

[2] Siehe S. 60, Fußnote 1.

[3] Siehe S. 7, Fußnote 2.

[4] Siehe S. 110, Fußnote 2.

[5] Siehe S. 103, Fußnote 2.

[6] Siehe S. 120, Fußnote 1.

[7] Unter dem Vorwand, den reaktionärsten Parteien, den Konservativen und dem Zentrum, eine „aktionsfähige Mehrheit“ entgegenzustellen, hatten die Sozialdemokraten im badischen Landtag 1910 mit den Liberalen einen Block gebildet. Mit diesem „Großblock“, der anläßlich der Landtagswahlen 1913 erneuert wurde, setzten sie sich in Widerspruch zu den Grundsätzen und Beschlüssen der Sozialdemokratischen Partei und unterstützten die Politik der bürgerlichen Regierung.

[8] Siehe S. 6, Fußnote 3.