Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 121

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/121

immer ein holdes Geheimnis der parlamentarischen Selbsttäuschungen bleiben. Es ist klar, daß hier die politischen Folgen des Kompaniegeschäfts mit dem Freisinn auf uns abfärbten, denn es ist ja seine Spezialität, auf den Nationalliberalismus immer zu hoffen, sich immer wieder zu enttäuschen und doch immer wieder zu hoffen und so in unendlichem Reigen von Wehklagen und ermunterndem Auf-die-Schulter-Klopfen fort, während der nationalliberale Held standhaft und unerschüttert bei jeder Probe auf sein Heldentum immer wieder ins Gras beißt. „Und wär’ es nur im Grase – in jedem Quark begräbt er seine Nase.“ Der Bülow-Block war auf eine politische Zusammenarbeit von Liberalen und Konservativen aufgebaut. Wenn man aber diese Kombination eine Paarung zwischen Karpfen und Kaninchen genannt hat, so war die Kombination der „linken Mehrheit“ in einem noch viel höheren Grade auf einer Paarung zwischen Karpfen und Kaninchen basiert, denn das, was uns von den Liberalen trennt, ist viel grundlegenderer Natur als das, was den Gegensatz der Liberalen und der Konservativen ausmacht.

Gewiß, es ist nicht Aufgabe der Klassenpartei des Proletariats, die verschiedenen Schichten und Parteien der bürgerlichen Gesellschaft künstlich zusammenzuschweißen, sie zu einer reaktionären Masse selbst zu peitschen. Aber es ist noch weniger Aufgabe der Sozialdemokratie, die bereits vollzogene, durch die objektive Entwicklung verursachte und durch tausend Erfahrungen bestätigte Zusammenschweißung der Bourgeoisie zu. einer reaktionären Masse zu verschleiern, sie durch kleine Mittelchen des Parlamentarismus, durch ein freundliches Wort hier, einen kleinen Puff dort wieder zu sprengen hoffen und nebensächliche Differenzen zwischen den bürgerlichen Parteien zu tiefgehenden Gegensätzen aufzubauschen.

Eine Politik, die auf solchen Fundamenten errichtet war, mußte sich als ein Kartenhaus erweisen, das der erste Wind umschmeißt. Und sie hat sich als solche erwiesen. Was wir gegenwärtig im Reichstage erleben[1],

Nächste Seite »



[1] Bei der Wahl des Reichstagspräsidiums zu Beginn der neuen Legislaturperiode am 9. Februar 1912 wurden Peter Spahn (Zentrum) zum Präsidenten, Philipp Scheidemann (Sozialdemokratische Partei) zum ersten und Hermann Paasche (Nationalliberale Partei) zum zweiten Vizepräsidenten gewählt. Über die Zusammensetzung des Präsidiums waren auf Initiative des Vorstandes der sozialdemokratischen Fraktion Besprechungen mit Vertretern der Nationalliberalen Partei, der Fortschrittlichen Volkspartei und auch des Zentrums geführt worden, die innerhalb der bürgerlichen Parteien heftige Meinungsverschiedenheiten hervorriefen und zum Rücktritt des Präsidenten und des zweiten Vizepräsidenten sowie zur Neuwahl dieser Ämter am 14. Februar 1912 führten. Da laut Geschäftsordnung des Reichstags das erste Präsidium nur für vier Wochen gewählt wurde, erfolgte am 8. März 1912 die Neuwahl für die Dauer der gesamten Session. In diesem Präsidium war kein sozialdemokratischer Abgeordneter vertreten.