Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 120

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Um jedoch solche Aktionen zu ermöglichen, um die nötige Spannkraft der revolutionären Energie in den Massen zu erzeugen und wachzuhalten, dazu ist vor allem nötig Klarheit, dazu ist es nötig, keine Illusionen im Volke zu nähren, als ob sich die herrschende Reaktion im Handumdrehen, durch eine „geschickte“ parlamentarische Taktik „zerschmettern" ließe, und vor allem keine Illusionen darüber, als ob die Volksmasse sich bei dieser großen historischen Aufgabe auf die parlamentarische Mitwirkung des bürgerlichen Liberalismus verlassen könnte.

Die Schaffung der „linken Mehrheit“, das war die Kehrseite der phantastischen Hoffnungen auf die Zerschmetterung der Reaktion. Die Fortschrittler sollten plötzlich im Ernst, wie die Franzosen sagen, als ami et cochon, als dicke Freunde, mit uns den Schwarz-Blauen Block in den Grund bohren! Mußten sich da nicht die Wählermassen bei diesen in höchsten Fisteltönen von uns wie von dem Mosse-Blatt vorgetragenen Melodien verwundert fragen: Ja, trauen wir denn unsern Ohren recht? Hat man uns nicht erst gestern in den Wahlversammlungen und Flugblättern klar bewiesen, daß der Schwarz-Blaue Block nur eine Konsequenz des Bülow-Blocks war, daß die Fortschrittler in der Finanzreform sich nur durch ein Feigenblättchen von den Schwarzblauen unterschieden, daß sie bei der Reichsversicherungsordnung[1] in ihrer Mehrheit zu den Schwarzblauen abschwenkten, daß sie den ganzen verbrecherischen Wahnwitz der Militär-, Marine und Kolonialpolitik mitmachen? Und diese Leute sollten plötzlich in einer Woche aus verschämten Handlangern der Reaktion zu ihren Zerschmetterern werden? So mußten sich die Wählermassen fragen, und die von uns eingeschlagene Taktik konnte nur die größte Verwirrung anrichten.

Aber die Rechnung der „linken Mehrheit“ hatte noch ein größeres Loch. Sie war nicht bloß auf die Fortschrittler, sondern auch auf die Nationalliberalen gebaut, denn nur mit Einrechnung dieser bis auf den letzten Mann konnte sich eine geringe zahlenmäßige Mehrheit ergeben. Und hier schlägt das Phantastische der Rechnung direkt ins Possenhafte um. Wie man in aller Welt auf die Idee verfallen konnte, die schwankenden Gestalten der Fraktion Drehscheibe[2], diese Partei, die die ärgsten Scharfmacher, die schlimmsten direkten Feinde der Arbeiterklasse umfaßt, zu den „Zerschmetterern“ der Reaktion zu zählen, das wird für

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[1] Am 30. Mai 1911 war im Reichstag die Vorlage zur Reichsversicherungsordnung angenommen worden, ohne die von der Sozialdemokratie gestellten Forderungen nach höheren sozialen Leistungen und deren Ausdehnung auch auf Landarbeiter sowie nach einer Herabsetzung des Rentenalters zu berücksichtigen.

[2] Gemeint ist die Reichstagsfraktion der Nationalliberalen Partei.