Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 114

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schrittler haben sich unsre Genossen wenigstens in einem der 16 freigegebenen Wahlkreise nicht mehr an die Abmachung gekehrt und eine energische Agitation entfaltet. Dabei haben wir von den durch den Parteivorstand für aussichtslos erklärten Kreisen zwei gewonnen: Nordhausen sowie den hochwichtigen Kreis Hagen, wo uns christlich-soziale Arbeiter zum Siege verholfen haben. Und wir hätten sicher noch mehr Wahlkreise erobern können – waren wir doch in mehreren im Vorsprung –, wenn uns die Abmachung mit den Fortschrittlern nicht lähmend und hindernd im Wege gestanden hätte. So hat sie uns höchstwahrscheinlich die beiden württembergischen Wahlkreise Göppingen und Balingen gekostet. Wir konnten in beiden durch energische Agitation die katholischen Arbeiterwähler gewinnen, die uns sozial unendlich näherstehen als die fortschrittlichen Bourgeois. Statt dessen haben wir sie durch die freiwillige Auslieferung des Balinger Kreises an den unter den katholischen Proletariern wegen seines kulturkämpferischen Bramarbasierens verhaßten Haußmann erbittert und uns mit unserm öffentlich vertretenen Grundsatz „Religion ist Privatsache“ in ihren Augen in Widerspruch gesetzt. Die Quittung dafür haben wir in Gmünd-Göppingen erhalten.

Die Abmachung des Parteivorstands mit den Fortschrittlern hat also in allen Teilen ein vollständiges Fiasko erlitten. Aber betrachten wir ihre allgemeine Wirkung auf die Parteikonstellation, namentlich auf das Verhältnis zum Schwarz-Blauen Block. Zu diesem Zweck ist es wohl am richtigsten, die Ergebnisse der diesjährigen Wahl mit denen der Hottentottenwahl 1907 zu vergleichen. Zwischen beiden besteht ein direkter Gegensatz. Damals gingen die Liberalen im engen Bündnis mit der Reaktion gegen uns vor, diesmal waren die Fortschrittler an uns durch eine Abmachung direkt gebunden, die Nationalliberalen dadurch indirekt mit der Reaktion entzweit. Was ergab sich aber? Als einziger Unterschied die Tatsache, daß die Fortschrittler 1907 in allen Kreisen wie ein Mann für die Reaktion stimmten, während diesmal eine Minderheit von ihnen für uns und die Mehrheit für die Reaktion stimmte. Im schließlichen Ergebnis bekommen wir jedoch die folgende merkwürdige Tatsache. Bei der Hottentottenwahl haben die Freisinnigen nicht weniger als 32 Wahlkreise an die Reaktion ausgeliefert. So wird bei uns gewöhnlich behauptet, und mit Recht behauptet. Aber damals zählten wir zur „Reaktion“ eben – die Nationalliberalen. So zu lesen in der im Selbstverlag des Parteivorstands 1911 erschienenen trefflichen Broschüre „Sünden des Freisinns. Material zur Bekämpfung der Fortschrittlichen Volkspartei“, Seite 29:

„Von den trotzdem noch erforderlichen Stichwahlen aber entschied er

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