Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 109

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des Kreises unmöglich geworden, dann geboten doch die Klasseninteressen des Proletariats, daß eine möglichst wenig reaktionäre Vertretung gesichert war. So ergab sich für die Stichwahlen die Losung des „geringeren Übels“, der die Sozialdemokratie stets treu geblieben ist und gegen die sich bis jetzt nie eine Stimme aus den Reihen der Partei erhoben hat. Damit war aber eine Preisgabe der Prinzipien, ein Mandatsschacher oder eine besondere, im Gegensatz zur Hauptwahl hervorgehobene „praktische Politik“ durchaus nicht verbunden. Die Unterstützung des „geringeren Übels“ liegt ganz auf der Linie unsrer allgemeinen Taktik, wir brauchten nicht ein Jota von unsern Grundsätzen preiszugeben, um diese Taktik zu befolgen – vorausgesetzt allerdings, daß das „Übel“ auch wirklich „geringer“ war. Das bezog sich aber stets nur auf Fälle, wo wir zwischen zwei Bürgerlichen entschieden. Niemals bestand eine besondere Stichwahltaktik für Wahlkreise, wo wir selbst gegen einen bürgerlichen Gegner kämpften, niemals fiel der Partei ein, freiwillig den Kampfplatz zu räumen, niemals fiel es ihr ein, die eigene Agitation lahmzulegen, um dem bürgerlichen Gegner den Sieg zu erleichtern.

Für diese Bestimmung des Abkommens kann nur eine Erklärung angeführt werden: Die Fortschrittler stellten sie als eine Bedingung sine qua non (unerläßliche Bedingung). Wäre sie nicht bewilligt worden, dann hätte sich das ganze Geschäft zerschlagen und die Fortschrittler gingen „Anschluß nach rechts“ zu suchen. Der Parteivorstand stand also in der ganzen Abmachung unter der Drohung des Fortschritts: Sonst gehen wir zu der Konkurrenz gegenüber! Und das waren wohlgemerkt dieselben Leute, die bei der Beratung der Finanzreform[1] erklärten, den von der Sozialdemokratie geforderten Ausbau der Verfassung müsse man mit Entrüstung zurückweisen, denn die Verkoppelung dieser Forderung mit der Finanzreform wäre gegenüber der Regierung „Erpressungspolitik und Kuhhandel“. Gegenüber der Regierung wollen also die Müller-Meiningen und Kopsch keine Erpressung treiben, bewahre! Aber gegenüber der Sozialdemokratie im stillen Kämmerlein scheint ihnen iede Zumutung erlaubt.

Statt nun auf das fortschrittliche Ansinnen die einzige gebührende Antwort zu geben, nämlich die Kuhhändler mitsamt ihrer „Conditio sine qua non“ in beschleunigtem Tempo die Treppe herunter zu befördern, hat ihnen der Parteivorstand alles bewilligt. Und wir müssen vielleicht am Ende noch froh sein, daß nicht statt 16 ganze 20 Kreise, etwa noch Plauen, Lennep-Mettmann, Altena-Iserlohn, freiwillig ausgeliefert worden sind.

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[1] Siehe S. 60, Fußnote 2.