Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 110

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Das war also die Abmachung „auf Gegenseitigkeit“! Die Situation entbehrt nicht einer grotesken Komik. Dazu brauchten wir also den gewaltigsten Wahlsieg, wie ihn die Welt nicht gesehen hat, und das stolze Heer von 41/4 Millionen, um uns am andern Tag von einer Partei, die am Boden lag, von einer Handvoll Mandatsjäger und Kuhhändler die Wahltaktik oktroyieren zu lassen. Der ganze ursprüngliche Zweck und Sinn dieser Abmachung ist dabei so ziemlich auf den Kopf gestellt worden: Sie sollte den Anschluß der Fortschrittler an die Reaktion verhindern, und sie war selbst beherrscht von der Rücksicht auf diesen Anschluß, sie sollte uns für die Wahlhilfe auf Grund des Jenaer Beschlusses Gegenleistungen sichern, und sie hat uns statt dessen weitere Zugeständnisse aufgenötigt, an die der Jenaer Parteitag im Traume nicht gedacht hat. Wir sollten, gestützt auf unsre Macht, Bedingungen diktieren, und wir mußten uns solche diktieren lassen. Soll man sich da wundern, daß sich die jungen Leute von Mosse[1] in ihrer brillanten Laune als Börsenmakler, die ohne einen Heller eigenes Geld ein „goldenes Geschäft“ gemacht haben, seit den Stichwahlen gebärdeten, daß es einem förmlich schlecht dabei werden konnte?

Doch suchen wir Trost in größeren Gesichtspunkten und weiteren Perspektiven. Der oberste politische Zweck der Abmachung war ja trotz alledem erreicht. Es war gelungen, die Liberalen von einem formellen Block mit der Reaktion loszureißen, die Wiederkehr von 1907[2] zu verhüten, und die Gefahr, fürwahr, ist nicht gering gewesen. Schon blies Herr Bethmann Hollweg als Rattenfänger von Hameln die Flöte zur Sammlung.[3] Gleichzeitig seit dem Handel zwischen uns und den Fortschrittlern spannen sich Verhandlungen zwischen Liberalen und der „schwarz-blauen“ Rechten. Die Telephonglocke ging hin und her, und die Geschicke Deutschlands hingen an einem Haar. Da haben wir mit entschlossener Hand, wie es in großen Augenblicken der Geschichte geziemt, die 16 Wahlkreise als Speck hingeworfen, und die fortschrittlichen Ratten kamen alle zu uns gelaufen. Nicht genug! Indem wir die Fortschrittler an uns banden, zogen wir indirekt auch die Nationalliberalen von den Schwarzblauen weg. Herr

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[1] Gemeint sind die Journalisten des Presse- und Anzeigenkonzerns Rudolf Mosse, dessen Blätter eine liberal verbrämte imperialistische Politik vertraten.

[2] Nach den Reichstagswahlen von 1907 hatten sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülow-Block, auch Hottentottenblock genannt, zusammengeschlossen. Gestützt auf diesen Block, war es Reichskanzler Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen.

[3] Am 14. Januar 1912 hatte die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ eine offiziöse Kundgebung veröffentlicht, in der unter nationalistischen und chauvinistischen Parolen die bürgerlichen Parteien zum Zusammengehen gegen die Sozialdemokratie bei den Stichwahlen aufgefordert wurden. Der Versuch, eine Konferenz von Vertretern der bürgerlichen Parteien durchzuführen, scheiterte jedoch.