Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 107

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Gesicht steigt; jedenfalls ist, seit die deutsche Sozialdemokratie besteht, ein ähnliches Wahlabkommen von ihr nicht getroffen worden.

Bisher galt es in der Sozialdemokratie als Grundsatz, daß der Wahlkampf in erster Linie und in der Hauptsache der Agitation, der Aufklärung über die Ziele der Sozialdemokratie dient, und in diesem Sinne galt es als heilige Pflicht und als Ehrensache, jeden Tag, jede Stunde des Wahlkampfes zu nutzen, um das Maximum an Agitationsarbeit zu leisten. Hier verbot der Parteivorstand den Fortschrittlern zuliebe unsern Genossen, die Agitation für die eigene Partei zu treiben! Keine Versammlungen, keine Flugblätter, keine Schlepperdienste – Sozialdemokraten durften keinen Finger rühren, um in der Stichwahl für die Sozialdemokratie Wähler, Anhänger zu werben. Sie sollten ruhig zusehen, wie die fortschrittlichen Gegner eine eifrige Tätigkeit entfalteten, wie sie die Sozialdemokratie herunterrissen, verleumdeten, von ihren Bestrebungen ein Zerrbild machten, ohne antworten zu dürfen. Und welche Wahlkreise sollten da unter anderm geopfert werden! Es genügt, nur Hagen zu nennen, den ehemaligen Stammsitz Eugen Richters, des gehässigsten Feindes und Verleumders der Sozialdemokratie.

Gewiß, Fragen der allgemeinen Taktik dürfen nicht vom Standpunkt der Kirchturmsinteressen einzelner Wahlkreise beurteilt werden. Kein Opfer darf zu groß sein, wo es sich um die allgemeinen Interessen der Partei handelt. Aber in der Sozialdemokratie gibt es keinen Gegensatz zwischen Wahlkreisinteressen und Parteiinteressen. Dieser Begriff selbst ist aus der liberalen Parteipraxis geschöpft, wo jeder Wahlkreis auf eigene Faust Politik treibt, mit andern Parteien techtelmechtelt und das eigene Parteiprogramm mit Füßen tritt. Bei uns sind Wahlkreis und Gesamtpartei eins in dem obersten Interesse der Erweiterung des Klassenbewußtseins und Stärkung der Macht des Proletariats. Gerade von diesem Standpunkt war aber die Auslieferung von 16 Wahlkreisen an die Fortschrittler ohne Kampf ein Schlag nicht gegen die Interessen der Wahlkreise, sondern gegen die Gesamtpartei. Der Schaden wäre vielleicht geringer gewesen, wenn wir den Mut der Konsequenz und der Aufrichtigkeit gehabt hätten, um die Kandidaturen in den betreffenden Kreisen offen zurückzuziehen. Damit wäre wenigstens eine klare Lage geschaffen. Die Kandidaturen aber aufrechterhalten und zugleich den Genossen verbieten, zu ihren Gunsten irgend etwas zu tun, diese unbegreifliche Taktik mußte auf die Parteigenossen erbitternd, auf die Wählermassen aber höchst verwirrend und demoralisierend wirken, in deren Augen es so aussehen mußte, als wenn wir eine Art unwürdige Komödie vollführten. Auch

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