Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 106

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wahl mit Fortschrittlern standen, sollte unsre Partei „den Wahlkampf dämpfen“, um den eventuellen Sieg des sozialdemokratischen Kandidaten zu verhindern und den Kreis dem fortschrittlichen Gegner auszuliefern.

Was hier frappiert, ist vor allem die völlig unbegreifliche politische Unterlage. Die leitenden Gesichtspunkte des ganzen Abkommens waren ja: 1. der Zweck, den Schwarz-Blauen Block zu zerschmettern, 2., uns selbst eine möglichst große Zahl von Mandaten zu sichern. Hier handelte es sich aber um Wahlkreise, die nur entweder dem Fortschritt oder uns zufallen konnten, die also auf jeden Fall der Linken sicher waren. Und gerade diese Wahlkreise sollten wir von vornherein den Fortschrittlern ausliefern. Dabei kamen also nicht mehr politische Gesichtspunkte von allgemeinem Interesse, die fortschrittliche Entwicklung, in Betracht – diese wären ja umgekehrt besser gesichert, wenn die Wahlkreise Besitz der Sozialdemokratie geworden wären –, sondern es kam einfacher Mandatsschacher der fortschrittlichen Partei in Frage. Und dieser Schacher sollte gerade auf unsre Kosten gemacht werden!

Doch nicht bloß der politische Ausgangspunkt des Abkommens kam dabei in Wegfall, sondern es wurden viel wichtigere Grundsätze des sozialdemokratischen Kampfes geopfert. Was hatte nämlich das verschämte Wörtlein „den Wahlkampf dämpfen“, das im Sprachlexikon der Sozialdemokratie bisher unbekannt war, zu bedeuten? Weit entfernt von der schönen Vertrauensseligkeit des sozialdemokratischen Parteivorstandes in die „vertraulichen“ Zirkulare der fortschrittlichen Parteileitung an ihre Kreisleitungen und in die Verehrung fortschrittlicher Kandidaten für ihr Programmpapier, haben die Herren Fortschrittler unserm Parteivorstand die „Dämpfung“ mit der Geschäftsroutine geriebener Kuhhändler haarklein in die Feder diktiert und spezifiziert: Der Vorstand hat sich für unsre Partei verpflichtet, in den genannten 16 Wahlkreisen „bis zur Stichwahl keine Versammlung abzuhalten, kein Flugblatt zu verbreiten, keine Stimmzettel den Wählern zuzustellen und am Wahltage selbst keine Schlepperdienste zu verrichten“ [Hervorhebung – R. L.], wogegen es uns „freistand“ – die Fortschrittler waren so gnädig, es zu erlauben –, am Wahltage vor den Wahllokalen Stimmzettel zu verbreiten. Letzteres ist uns auch wohl deshalb „freigestellt“ worden, weil sonst, bei gänzlichem und unerklärlichem Fehlen sozialdemokratischer Wahlzettel, unsre Parteigenossen einen öffentlichen Skandal gemacht und so die Heimlichkeit der ganzen Abmachung gefährdet hätten.

Es ist schwer, diese Zeilen des Abkommens zu lesen, ohne daß einem die Röte der Scham und des Zornes über die fortschrittliche Zumutung ins

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