Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 102

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keiten denkbares Abkommen von nicht näher zu bestimmendem Inhalt lobenswert oder tadelnswert sei, das zu untersuchen hätte allenfalls einigen Reiz gehabt, bevor ein konkretes Abkommen abgeschlossen war. Jetzt aber, wo eine faustdicke Tatsache des gegebenen Stichwahlabkommens mit seinem Drum und Dran und seinen handgreiflichen Ergebnissen vorliegt, scheint es uns eine ziemlich müßige Beschäftigung, die „Idee“ des Abkommens etwa zu loben oder zu tadeln, die harte Wirklichkeit hingegen für ein nebensächliches Detail zu erklären. Dasjenige Abkommen, das vom Parteivorstand mit den Fortschrittlern abgeschlossen worden ist, fordert die schärfste Kritik heraus, wie man auch grundsätzlich zu Stichwahlabkommen stehen mag.

Wir haben am 12. Januar einen beispiellosen Sieg errungen. Die ganze Welt stand im Banne unsrer Machtentfaltung. Wozu brauchte es überhaupt eine Abmachung mit bürgerlichen Parteien? Die Motive des Parteivorstands, wie er sie der Parteipresse mitgeteilt hat, sind klar: Es galt, unsre Machtstellung auszunutzen, um sowohl uns selbst eine möglichst große Zahl von Mandaten zu sichern wie den Schwarz-Blauen Block[1] zu zertrümmern. Dazu sollte eine geschickte Stichwahltaktik dienen. Unsre Marschroute für die Stichwahlen war zwar durch den Jenaer Beschluß[2] im voraus gegeben. Aber so hätten wir ohne jede Gegenleistung unsre Wahlhilfe gewähren müssen. Damit war der Parteivorstand offenbar nicht zufrieden. Es galt, die Macht, die wir nun hatten, nicht ohne Entgelt hinzuwerfen, es galt, sie zu politischen Vorteilen für uns wie für die allgemeine Entwicklung auszunutzen. Und dazu bot sich eben die Gelegenheit. Die Liberalen waren vernichtet, die Fortschrittspartei war wieder wie

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[1] Siehe S. 65, Fußnote 2.

[2] In der Resolution des Parteivorstandes zur Reichstagswahl auf dem Jenaer Parteitag heißt es unter anderem: „Wo nach dem Ausfall der Hauptwahlen die Parteigenossen bei engeren Wahlen eine Entscheidung zwischen gegnerischen Kandidaten zu treffen haben, dürfen sie nur demjenigen Kandidaten ihre Stimmen zuwenden, der sich verpflichtet:

für Aufrechterhaltung des bestehenden Wahlrechts für den Reichstag;

gegen eine Beschränkung des Vereins- und Versammlungsrechts und des Koalitionsrechts;

gegen eine Verschärfung der sogenannten politischen Paragraphen des Strafrechts;

gegen ein wie immer geartetes Ausnahmegesetz;

gegen jede Erhöhung oder Neueinführung von Zöllen auf die Verbrauchsartikel der großen Masse;

gegen jede Neueinführung oder Erhöhung indirekter Steuern auf Verbrauchsartikel der großen Masse einzutreten und zu stimmen.

Der betreffende Kandidat ist zu ersuchen, seine Erklärung vor Zeugen oder schriftlich abzugeben. Stehen in der engeren Wahl zwei Kandidaten, die beide bereit sind, die aufgestellten Bedingungen zu erfüllen, so ist der Liberale dem Nichtliberalen vorzuziehen. In jedem anderen Falle ist strikte Stimmenenthaltung zu proklamieren.“ (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Jena vom 10. bis 16. September 1911, Berlin 1911, S. 159/160.)