Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 103

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1903 auf Null reduziert, sie war also auf unsre Wahlhilfe angewiesen. Aber diese sollte sie nicht umsonst kriegen. Wir waren diesmal in der Lage, ihr Bedingungen zu diktieren, ihr den Anschluß an die Reaktion abzuschneiden, die Wiederholung von 1907[1] zu verhindern. Sehen wir zu, wie dies bewerkstelligt wurde. Ein praktisches Geschäft will zunächst rein praktisch beurteilt werden.

Auf Grund des Abkommens mit unserm Parteivorstand haben sich die Fortschrittler verpflichtet, uns in 31 genau aufgezählten Wahlkreisen gegen die Reaktion zu unterstützen. Jeder Mensch wird nun erwarten, daß diese Unterstützung in einer klipp und klaren Parole zugunsten der Sozialdemokratie Ausdruck gefunden hätte. Dies war wohl doch das selbstverständliche Minimum, bei dem von Gegenseitigkeit die Rede erst beginnen konnte. Angesichts der notorischen Unzuverlässigkeit der fortschrittlichen Wähler, die bis jetzt, wie alle jüngsten Erfahrungen gezeigt haben, unbekümmert sogar um die offizielle Parole der eignen Kreisvorstände, fatal nach rechts abschwenkten – man braucht da nur an die Nachwahl des vorigen Jahres in Gießen-Nidda[2] zu denken –, mußte eine klare und deutliche Verpflichtung des Zentralvorstands der Fortschrittlichen Volkspartei zu einer offiziellen Losung für die Sozialdemokratie wohl das geringste sein, was man verlangen durfte. Es ist auch selbstverständlich, daß unser Parteivorstand eine solche Parole forderte. Doch die Fortschrittler gingen auf diese elementare Bedingung nicht ein. Weshalb? Nun, die Erklärung liegt auf der Hand. Eine offizielle Parole zugunsten der Sozialdemokratie würde die Fortschrittler in den Augen der reaktionären Parteien bloßgestellt haben. Die Fortschrittler wollten eben nicht öffentlich alle Brücken nach rechts abbrechen, ihre Spekulation ging dahin, sich wohl die sozialdemokratische Wahlhilfe schmecken zu lassen, sich aber dadurch die Hilfe der reaktionären Wähler beileibe nicht ganz zu verscherzen. Es lag also hier, in der Verweigerung der offiziellen Parole zugunsten der Sozialdemokratie, dieselbe unehrliche Spekulation der Fortschrittler auf die Gunst der reaktionären Wähler, dasselbe Doppelspiel vor, dem zuliebe auch die Veröffentlichung des ganzen Abkommens unterbleiben mußte. Unser Parteivorstand trug seltsamerweise dieser Spekulation Rechnung und verzichtete auf eine offizielle Parole zugunsten unsrer Kandidaten. Letztere sollte lediglich in vertraulichen Zirkularen den Kreis-

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[1] Siehe S. 7, Fußnote 2 u. S. 110, Fußnote 2.

[2] Bei den Nachwahlen zum Reichstag in Gießen-Nidda im März 1911 hatte die Mehrheit der liberalen Wähler z. T. im Gegensatz zur Wahlparole der Fortschrittlichen Volkspartei den Antisemiten die Stimme gegeben.