Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 92

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übel klingen, namentlich im Ohr jener Handvoll sonderbarer Schwärmer in unseren eigenen Reihen, die schon seit geraumer Zeit eine entscheidende Wendung in der Politik Deutschlands von einem „Großblock von Bassermann bis Bebel“ erhofften und eine fröhliche Urständ des allgemein totgeglaubten Liberalismus prophezeiten. Leider ist auch diesmal die von ihm selbst geräuschvoll verkündete Auferstehung des bürgerlichen Liberalismus nichts als ein großer Humbug. Der freudige Glaube, den er mit seinen Renommistereien auch bei manchen Sozialdemokraten gefunden hat, konnte nur im ersten Rausche des Sieges aufkommen.

„Zahlen und Tatsachen, Tatsachen und Zahlen!“ wie Mister Bounderby in Dickens „Harten Zeiten“ zu sagen pflegt. Wie sieht die Legende von der mannhaften Tugend des Liberalismus im Lichte der Zahlen und Tatsachen aus? In der Hauptwahl errang sein linker Flügel 0, sein rechter 4 Mandate. Damit kehrte die Lage von 1903 als die normale wieder zurück, und die erste feststehende Tatsache ist die: Der Liberalismus existiert als selbständige politische Partei aus eigener Kraft überhaupt nicht mehr. Der stolze Kämpe, mit dem Arm in Arm die Sozialdemokratie ihr Jahrhundert in die Schranken fordern soll, kann selbst nur noch von Gnaden der Sozialdemokratie oder der Reaktion leben.

Es folgten die Stichwahlen, und nun begannen die eigentlichen Heldentaten des Liberalismus. Nur in Bayern und in den Reichslanden folgten die liberalen Wählermassen im allgemeinen an den ersten beiden Stichwahltagen der Losung: Die Front gegen rechts. Wie aber war ihre Stellung im übrigen Reiche? Am ersten Stichwahltag lieferte die Volkspartei 16 Wahlkreise an die Reaktion aus, die Nationalliberalen taten in zwei Kreisen desgleichen. Am zweiten Stichwahltag spielte die Volkspartei zwei Wahlkreise glatt den Antisemiten in die Hände; ausgenommen Köln und Heilbronn, zerstoben in fast allen anderen Kreisen die liberalen Wähler in der Weise, daß eine kleine Zahl für die Sozialdemokratie stimmte, die größere Zahl aber zur Reaktion überlief und der Sozialdemokratie in den Rücken fiel. Wenn wir dennoch im zweiten Stichwahlgang eine so große Anzahl Mandate eroberten, so war dies letzten Endes deshalb möglich, weil wir noch Reserven an die Urne brachten und namentlich weil wir bereits in der Hauptwahl einen Vorsprung gewonnen hatten, der groß genug war, daß uns auch die liberalen Verräter nicht zu Fall zu bringen vermochten. Und genau dasselbe, ja noch Schlimmeres ereignete sich am dritten Stichwahltag: In sämtlichen Wahlkreisen, wo wir siegten, liefen Fortschrittler wie Nationalliberale in ihrer Mehrzahl ins Lager der Reaktion über. Fielen doch zum Beispiel in Potsdam-Ost-

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