Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 89

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Invalidenhaus der beschäftigten. Arbeiter und das tote Gewicht der Arbeitslosen. Die Entstehung der öffentlichen Armut ist unzertrennlich verbunden mit der Entstehung der vorrätigen unbeschäftigten Arbeiterschicht, beide sind gleich notwendig, beide sind Lebensbedingung der kapitalistischen Produktion und Entwicklung des Reichtums. Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das ausbeutende Kapital, der Umfang und die Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Ergiebigkeit seiner Arbeit, desto größer die Schicht der Arbeitslosen. Je größer aber diese Schicht im Verhältnis zur beschäftigten Arbeitermasse, desto massenhafter die überzähligen Verarmten. Dies ist das absolute allgemeine Gesetz der kapitalistischen Produktion.[1]

Lucian Szczyptierowski, der auf der Straße endet, vergiftet vom faulen Bückling, gehört ebenso zum Dasein des Proletariats wie jeder qualifizierte, bestbezahlte Arbeiter, der sich gedruckte Neujahrskarten und eine vergoldete Uhrkette leistet. Das Asyl für Obdachlose und der Polizeigewahrsam sind ebenso Säulen der heutigen Gesellschaft wie das Reichskanzlerpalais und die Deutsche Bank. Und der vergiftete Bücklingsschmaus mit Fusel im städtischen Obdach ist die unsichtbare Unterlage für den Kaviar und den Champagner auf dem Tische der Millionäre. Die Herren Geheimen Medizinalräte können lange den Todeskeim in den Gedärmen der Vergifteten durch das Mikroskop suchen und „Reinkulturen“ züchten: Der wirkliche Giftbazillus, an dem die Berliner Asylisten gestorben sind, heißt – kapitalistische Gesellschaftsordnung in Reinkultur.

Jeden Tag sterben einzelne Obdachlose, brechen vor Hunger und Kälte zusammen – kein Mensch nimmt von ihnen Notiz, bloß der Polizeibericht. Nur die Massenhaftigkeit der Erscheinung erregte diesmal in Berlin das große Aufsehen. Nur als Masse, das Elend zuhauf getragen, vermag der Proletarier die Gesellschaft zur Aufmerksamkeit für sich zu zwingen. Selbst der Letzte, der Obdachlose wird als Masse, und sei es bloß als Haufe von Leichen, zu einer öffentlichen Größe!

Gewöhnlich ist ein Leichnam ein stummes, unansehnliches Ding. Es gibt aber Leichen, die lauter reden als Posaunen und heller leuchten als Fackeln. Nach dem Barrikadenkampf am 18. März 1848 hoben die Berliner Arbeiter die Leichen der Gefallenen in die Höhe, trugen sie vor das Königsschloß und zwangen den Despotismus, vor den Opfern das Haupt zu entblößen. Jetzt gilt es, die Leichen der vergifteten Obdachlosen in

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[1] Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, Berlin 1970, S. 673/674.