Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 79

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die sozialistische Fahne zu heften. Wir gehen nicht auf den Mandatefang. Wir zählen nicht bloß die Stimmen, wir wiegen sie nach dem geistigen Gehalt. Wir wollen nicht eine große Masse urteilsloser Mitläufer; uns liegt daran, in jedem Wähler einen wetterfesten Streiter im Klassenkampfe zu gewinnen, solche Anhänger zu haben, die uns in guten und bösen Zeiten nicht verlassen.

Darüber müssen wir uns klar sein, daß ein scharfer Wind weht gegen die Sozialdemokratie. Nicht, daß wir Angst hätten. Wir fürchten keine Verfolgungen. Im Gegenteil. Wir sagen klar und offen den Massen: Macht euch darauf gefaßt, nicht bloß eure Stimme für uns zu geben, sondern auch euer Leben, wenn es nötig wird. (Beifall.) Deshalb brauchen wir diesen Wahlkampf, um unsre ganze Aufgabe vor die Augen der Massen zu stellen.

Wir leben in einer Zeit, wo der letzte Rest des Liberalismus unter dem Stampfen des Imperialismus zusammenbricht. Es gibt nicht eine bürgerliche Partei, die den Mut hätte, sich für die Ehre des Parlamentarismus einzusetzen. Wenn wir in Deutschland noch einen Parlamentarismus hätten oder eine Bürgerschaft, die einigermaßen auf ihre Tradition hielt, sie würde solche Leute wie einen Bethmann, einen Kiderlen zum Teufel jagen mit einem Denkzettel, daß sie nicht wagten, wieder vor die Augen des Volkes zu treten. Aber heute ist die Arbeiterschaft in Deutschland die einzige Macht, die gegenüber dem Treiben des persönlichen Regiments das Prinzip der Demokratie vertritt und sagt: Wir brauchen kein Instru­ment des Himmels, her mit der Republik!

So müssen wir für die kommende Reichstagswahl kämpfen. Und jeder Wähler, der mit dem Zettel an die Urne geht, muß es aus der Gesinnung heraus tun, wie Bebel in Dresden gesagt hat: Ich bin und bleibe ein Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft.[1] (Stürmischer Beifall.)

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 280 vom 4. Dezember 1911.

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[1] Siehe S. 65, Fußnote 3.