Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 6

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wort wurde zwar nur von einem Mitglied des Parteivorstands als seine Privatmeinung mitgeteilt[1], doch haben sich offenbar die übrigen Mitglieder derselben angeschlossen, denn eine weitere Kundgebung von dieser Seite erfolgte nicht, das deutsche Mitglied des Internationalen Büros erklärte gleichfalls zunächst die Konferenz für nicht empfehlenswert[2], und die geplante Zusammenkunft unterblieb aus diesem Grunde.

Man mag über die Notwendigkeit oder Überflüssigkeit einer Konferenz des Internationalen Sozialistischen Büros aus Anlaß der Marokkoaffäre verschiedener Meinung sein. Diese Zusammenkunft war jedenfalls gar nicht für den nächsten Augenblick geplant, sie sollte nur vorbereitet werden, um nötigenfalls ins Werk gesetzt zu werden. In diesem ausdrücklichen Sinne haben auch nur die sozialistischen Vertreter Frankreichs, Spaniens und Englands die Anregung akzeptiert. Die Ablehnung von deutscher Seite jedoch, „zunächst“ die Konferenz abzuhalten, ist als eine Absage an die Idee überhaupt aufgefaßt worden, weshalb auch vom Brüsseler Sekretariat der Vorschlag gemacht wurde, die Marokkofrage ad acta der nächsten Jahressitzung des Büros zu legen. Daß dieses Verhalten der deutschen Partei auf die sozialistische Protestbewegung in den andern Ländern nicht gerade ermutigend und anspornend wirken dürfte, scheint uns klar zu sein. Um so interessanter ist es, die Gründe zu erfahren, die zu diesem Verhalten unsrer Partei geführt haben. Es klingt fast unwahrscheinlich, aber diese Gründe sind wieder einmal – die Rücksichten auf die bevorstehenden Reichstagswahlen[3]. Die Auffassung, die von dem Mitglied des Parteivorstands zum Ausdruck gebracht worden ist und die nach seiner Mitteilung bereits auch in einer öffentlichen Versammlung in Berlin dargelegt wurde, lautet folgendermaßen :

„Ich sehe in dem ganzen Streich etwas, womit unsere Staatslenker die allgemeine Aufmerksamkeit von den inneren Zuständen ablenken und Stimmung für die Reichstagswahlen machen wollen. Mit der inneren Politik ist unsere Regierung in solche Lage gekommen, daß sie bei einem Hund Mitleid erregen könnte. Sie greift also zu dem beliebten Mittel wie

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[1] Den Antwortbrief an das Internationale Sozialistische Büro hatte Hermann Molkenbuhr geschrieben. Siehe dazu Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. IV, Berlin 1967, S. 348–350.

[2] August Bebel hatte am 10. Juli 1911 aus Zürich dem Internationalen Sozialistischen Büro schriftlich zugesagt, an einer Konferenz zur Marokkokrise teilzunehmen, jedoch in einem Brief vom 12. Juli eine solche Konferenz für nicht empfehlenswert gehalten.

[3] Die Reichstagswahlen wurden am 12. Januar 1912 durchgeführt. Die Sozialdemokratie konnte dabei 4,2 Millionen Stimmen gegenüber 3,2 Millionen im Jahre 1907 erringen und die Zahl ihrer Mandate von 43 auf 110 erhöhen. Sie wurde damit die stärkste Fraktion des Reichstags.