Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 458

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konnte in allen Gegenden des Landes ohne Ausnahme von den leitenden Instanzen hören, daß sie die Größe und die Wucht jener Aktionen nie zu erwarten gewagt hatten. Die tatsächliche Kampfstimmung und Disziplin der Massen hatte damals alle Berechnungen der führenden Genossen weit übertroffen. Und dieselbe Erfahrung werden wir noch häufig machen, vorausgesetzt allerdings, daß die Partei nicht selbst zaghaft und schwankend, ohne Lust und Glauben an die Sache herantritt, vorausgesetzt namentlich, daß wir die Massen nicht durch Ansagen von Aktionen beirren, denen wir überhaupt nichts folgen lassen.

Die Zeit, in der wir leben, trägt mit jedem Tag so viel aufreizendes Material, so viel Stoff zur Erregung der Massen zuhauf, daß es ein Wunder wäre, wenn die Massen bei richtiger, konsequenter und ausdauernder Agitation nicht die erforderliche Kampflust aufbringen würden. Kommt es doch nicht etwa auf eine künstlich aufgebauschte Aktion, nicht auf eine gewaltsam herbeigeführte einmalige Entscheidung an. Worauf es ankommt, ist, der in den Massen aus allen möglichen Ursachen aufgespeicherten Erbitterung und Empörung Ausdruck zu verleihen, auf die freche Herausforderung des preußischen Junkerregiments die nötige Antwort zu erteilen und – mit den eigenen Worten der Partei Ernst zu machen. Ob und wieweit die Stimmung der Massen in jeder einzelnen Etappe der Bewegung die Aktion zu entfalten erlaubt, kann niemand im voraus mit Sicherheit bestimmen und noch weniger von oben herab mit dem Taktstock kommandieren. Was aber mit tödlicher Sicherheit vorausgesehen werden kann, das ist, daß gar keine Stimmung und gar keine Aktion in absehbarer Zeit zustande kommen, wenn die Partei fortfährt, nach einem kräftigen Trompetenstoß von der beginnenden „zweiten Etappe“ und von den zu formierenden „Sturmkolonnen“ nach einem schüchternen halben Schritt gar nichts weiter zu unternehmen, wenn die Presse, die Wahlvereine, die lokalen Organe der Partei nicht zur Aufrüttelung der Massen das Nötige an ihrem Teil leisten.

In jedem Moment das Maximum an Aktionsfähigkeit der Massen auszulösen ist direkte Pflicht einer Kampfpartei wie der unseren. Und wenn die Initiative dazu vom Zentrum aus mangelt, dann muß in einer echten demokratischen Partei wie der unseren die Initiative von unten auf, aus der Provinz, nachhelfen.

Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin),
Nr. 64 vom 6. Juni 1914.

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