Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 440

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klärte aber Moloch auf die knappste Anfrage aus der Mitte der Volksvertreter über die Schicksale jener Volkssöhne schnarrend: Halt’s Maul, Reichstag, du bist nicht zuständig! Und was tat darauf der Reichstag? Richtig, er hielt das Maul und schluckte die Antwort im Stile Götz von Berlichingens, ohne mit der Wimper zu zucken.

Man ist in Deutschland seit der Zabernaffäre[1], seit den zahllosen Selbstentwürdigungen der bürgerlichen Reichstagsmehrheit nachgerade an starke Stücke gewöhnt. Ein Parlament, das sich seit langen Jahren in der Kunst der eigenen Erniedrigung und Preisgebung mit wahrem Feuereifer übt, ruft schließlich eine gewisse Abstumpfung gegenüber seinen Heldentaten hervor. Und doch zeigt sich, daß es für den deutschen Reichstag auch noch von der politischen Tiefe, an der er mit Gott für König und Vaterland angelangt ist, einen Abrutsch gibt. Es zeigt sich, daß jeder neue Tag einen neuen, weiteren Schritt der siegreichen Militärdiktatur über die Leiche des deutschen Parlamentarismus mit sich bringt. Denn was bedeutet die Erklärung des säbelrasselnden Marssohnes an den Reichstag? „Nicht zuständig in Angelegenheiten der Ausbildung der Truppen!“ Aber zur „Ausbildung der Truppen“ gehören Dienstzeit, Mißhandlungen der Soldaten, ihre Ernährungs- und Gesundheitszustände in der Kaserne und auf den Übungsplätzen, die Manöver, die Verwendung der Soldaten als Offiziersburschen und als Streikbrecher, als Mordwerkzeuge gegen streikende Arbeiter und gegen demonstrierende Volksmassen. Ja, das ganze heutige Militärsystem hat ja überhaupt keinen anderen erdenklichen Zweck als die „Ausbildung der Truppen“, und so wäre von nun an der Reichstag über dieses ganze System mit all seinem lieblichen Drum und Dran „nicht zuständig“ mitzureden. Die Debatten im Plenum über den Militäretat, die Verhandlungen darüber in den Kommissionen des Reichstags wären von nun an eine unwürdige Farce, ein leeres Wortgebimmel, dem nicht einmal mehr eine Selbsttäuschung des würdigen Parlaments über die eigene angebliche Bedeutung einigen sittlichen Ernst verleihen könnte! Der Reichstag würde sich als nur zuständig zur Bewilligung von Geldmitteln für den Militarismus herausstellen.

In jedem Parlament, dessen Mehrheit auf sich selbst wie auf die Verfassungsrechte des Volkes etwas hält, würde ein tosender Sturm der Entrüstung dem frechen Kriegsknecht seinen Satz in den Mund zurückgedrückt haben wie selbst in der russischen Duma vor einigen Jahren ein elementarer Sturm der sozialdemokratischen Fraktion einen säbelrasselnden Kriegsminister mitten im frechen Wort zum Schweigen gebracht hat,

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[1] Im November 1913 war es in Zabern (Unterelsaß) zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur Oberst von Reuter ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und Verhaftungen vornehmen. Diese Vorgänge lösten in ganz Deutschland, selbst bei Teilen des Bürgertums, einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla aus, und der Reichstag mißbilligte nach heftigen Debatten mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte. Oberst von Reuter, gegen den vom 5. bis 8. Januar 1914 vor einem Kriegsgericht in Straßburg verhandelt wurde, wurde von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vom deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert.