Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 437

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Erschütterungen, zuckender Kämpfe das letzte Vierteljahrhundert kapitalistischer Entwicklung eine genaue Bestätigung, eine lebendige Verkörperung all der Erkenntnisse, Hoffnungen und Bestrebungen geworden, die dem sozialistischen Klassenkampf des Proletariats zugrunde liegen. Ein Stück Geschichte liegt hinter uns, deren jeder Schritt sich den proletarischen Massen mit Brandmalen unzähliger Leiden in den Nacken geprägt hat, deren jeder Zug aber zugleich diesen Massen mit Macht verkündet, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung ihrem Zusammenbruch entgegenrast und daß die sozialistische Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann.

In all diesen Zeiten war die Maifeier der lebendige Pulsschlag des proletarischen Kampfes. Im Jahre 1890 läutete sie die neue Internationale, den Zusammenschluß der Arbeiter aller Länder, ein und stellte so im voraus der Phase des Imperialismus die gemeinsame Abwehraktion des Weltproletariats entgegen. In Österreich war sie das Signal der Aufrüttelung zum Kampfe um das allgemeine Wahlrecht. In Rußland erst eine in kleinen Zirkeln geheim geflüsterte Botschaft, leuchtete sie im Revolutionsjahre 1905 als ein gewaltiger Triumphzug auf den Straßen Warschaus auf, um im Jahre 1911 in Petersburg und anderen Städten durch die Arbeitsruhe einer halben Million das Wiedererwachen des russischen Proletariats von der bleiernen Erstarrung der Konterrevolution zu verkünden. Um die Maifeier floß das Blut der französischen Proletarier in Fourmies und Carmaux und der polnischen in Warschau und Łódź. Sie war überall der erste Aufschrei einer zum Kampf sich ermannenden Arbeiterschicht und die höchste Welle einer aufschäumenden revolutionären Stimmung.

Heute werden die beiden Hauptparolen der Maifeier: der Achtstundentag und der Völkerfrieden, mit jedem Tage dringender und lebendiger angesichts des immer unerträglicheren Drucks der Ausbeutung wie der wilden Orgien des Militarismus.

Was ist aber das politische Gesamtresultat der Erfahrungen der letzten fünfundzwanzig Jahre für unseren Kampf? Was ist unsere besondere Aufgabe in der gegenwärtigen Situation? Es ist die Erkenntnis, daß nur proletarische Massenaktionen in ihrer ganzen Wucht und Macht imstande sind, unsere parlamentarische Aktion fernerhin zu stützen und zu erweitern. Daß in großen entscheidenden Momenten des parlamentarischen wie des gewerkschaftlichen Kampfes, der inneren wie der internationalen Politik nur der höchste Druck jener Massenaktionen, die Arbeitsruhe, imstande ist, der proletarischen Sache zum Siege zu verhelfen.

Es ist der Geist der Maifeier, es ist der Gedanke des Massendrucks

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