Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 429

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Profithungers den bewußten, leidenschaftlichen Widerspruch der arbeitenden Massen wecken, desto mehr rückt in den Vordergrund neben dem liberalen Problem: Armee oder Parlament? das unendlich größere proletarische Problem: Armee oder arbeitendes Volk? Je mehr gerade die Gesetzgebung der heutigen bürgerlichen Staaten und ihre Parlamente sich selbst zu willigen Werkzeugen der Verwendung der Militärgewalt gegen das Proletariat und zu imperialistischen Kriegsabenteuern hergeben, um so weniger kann das Dilemma „Armee oder Parlament?“, „Armee oder Gesetz?“ vom Standpunkte der proletarischen Klasseninteressen ausreichend sein. Die Lösung der Krisen in der Art der englischen Militärrevolte oder der Zabernaffäre liegt denn auch in Wirklichkeit nicht in den Parlamenten und nicht in noch so geschickten parlamentarischen Schachzügen liberaler Staatsmänner. Die einzige wirkliche Lösung des Gegensatzes zwischen Offizierskorps und Parlament wie zwischen Armee und Volk ist in dem sozialdemokratischen Programm gegeben: Abschaffung der stehenden Heere mit ihrem privilegierten Offizierskorps, Auflösung der Armee im bewaffneten Volk, Entscheidung des Volkes in seiner Gesamtheit über Krieg und Frieden. Nur dann, wenn das Militär als Milizheer wirklich zu dem wird, was es der liberalen Theorie nach ist – ein Instrument der Verteidigung des Vaterlandes –, wird der Gegensatz zwischen Armee und Volk überwunden werden. Und der Weg dazu führt nicht durch parlamentarische Scharmützel um Ministerkrisen, sondern durch die intensive Aufrüttelung der breiten Volksmassen gegen die Verbrechen des heutigen Militarismus.

Kaum hatte das Parlamentsheer in der großen englischen Revolution des 17. Jahrhunderts die ersten Siege davongetragen, als in seinem Innern schon Klassengegensätze hervortraten und die scheinbare Einheit in heftigen Kämpfen aufging. Gegen die bürgerliche Obrigkeit erhob sich die Masse der Soldaten aus dem Volke, und in ihr sonderten sich schon als rein proletarisches Element die kommunistischen „Diggers“ ab. Diese „Grabreden“ waren damals nur eine Sekte Utopisten. Heute hat der sozialdemokratische Spaten die bürgerliche Herrschaft und die künstliche Einheit ihres Militärsystems ganz anders unterminiert. Und während die Bourgeoisie sich noch ohnmächtig mit dem Ungehorsam der reaktionären Offiziere herumschlägt, naht sich die Stunde, wo Volk wie Armee in ihrer gewaltigen Mehrheit aus Totengräbern dieses Militärsystems wie dieser Klassengesellschaft bestehen wird.

Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin),
Nr. 39 vom 2. April 1914.

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