Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 411

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/411

als Kleinbürgerin ist sie ein Lasttier der Familie. In der modernen Proletarierin wird das Weib erst zum Menschen, denn der Kampf macht erst den Menschen, der Anteil an der Kulturarbeit, an der Geschichte der Menschheit.

Für die besitzende bürgerliche Frau ist ihr Haus die Welt. Für die Proletarierin ist die ganze Welt ihr Haus, die Welt mit ihrem Leid und ihrer Freude, mit ihrer kalten Grausamkeit und ihrer rauhen Größe. Die Proletarierin wandert mit dem Tunnelarbeiter aus Italien nach der Schweiz, kampiert in Baracken und trocknet trällernd ihre Säuglingswäsche neben Felsen, die mit Dynamitpatronen in die Luft fliegen. Als Saisonlandarbeiterin sitzt sie im Frühjahr im Lärm der Bahnhöfe auf ihrem bescheidenen Bündel, ein Tüchlein auf dem schlicht gescheitelten Kopfe, und wartet geduldig, um vom Osten nach dem Westen verladen zu werden. Auf dem Zwischendeck des Ozeandampfers wandert sie mit jeder Welle, die das Elend der Krise von Europa nach Amerika spült, in der buntsprachigen Menge hungernder Proletarier, um, wenn die rückläufige Welle einer amerikanischen Krise aufschäumt, nach der heimatlichen Misere Europas, zu neuen Hoffnungen und Enttäuschungen, zur neuen Jagd nach Arbeit und Brot zurückzukehren.

Die bürgerliche Frau hat kein wirkliches Interesse an politischen Rechten, weil sie keine wirtschaftliche Funktion in der Gesellschaft ausübt, weil sie die fertigen Früchte der Klassenherrschaft genießt. Die Forderung nach weiblicher Gleichberechtigung ist, wo sie sich bei bürgerlichen Frauen regt, reine Ideologie einzelner schwacher Gruppen, ohne materielle Wurzeln, ein Phantom des Gegensatzes zwischen Weib und Mann, eine Schrulle. Daher der possenhafte Charakter der Suffragettenbewegung.[1]

Die Proletarierin braucht politische Rechte, weil sie dieselbe wirtschaftliche Funktion in der Gesellschaft ausübt, ebenso für das Kapital rackert, ebenso den Staat erhält, ebenso von ihm ausgesogen und niedergehalten wird wie der männliche Proletarier. Sie hat dieselben Interessen und benötigt zu ihrer Verfechtung dieselben Waffen. Ihre politischen Forderungen wurzeln tief in dem gesellschaftlichen Abgrund, der die Klasse der Ausgebeuteten von der Klasse der Ausbeuter trennt, nicht im Gegensatz von Mann und Frau, sondern im Gegensatz von Kapital und Arbeit.

Formell fügt sich das politische Recht der Frau in den bürgerlichen Staat ganz harmonisch. Das Beispiel Finnlands, amerikanischer Staaten,

Nächste Seite »



[1] Als Suffragetten wurden in Großbritannien die Kämpferinnen für die politische Gleichberechtigung der Frauen, in erster Linie die Anhängerinnen der Frauenwahlrechtsbewegung bezeichnet.