Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 404

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/404

Ende zu machen und die Krise zur Befreiung des Landes und der arbeitenden Klassen auszunutzen.

Alle diese Bestrebungen legen Zeugnis ab von der wachsenden Macht des Proletariats und von seinem wachsenden Drange, die Aufrechterhaltung des Friedens durch entschlossenes Eingreifen zu sichern.“[1]

Und nun frage ich: Finden Sie, meine Herren, in all diesen Resolutionen und Beschlüssen auch nur eine Aufforderung, die dahin geht, daß wir uns vor die Soldaten hinstellen und ihnen zurufen sollen: Schießt nicht! Und weshalb? Etwa deshalb, weil wir uns vor den Folgen einer solchen Agitation, vor Strafparagraphen fürchten? Ach, wir wären traurige Wichte, wenn wir aus Furcht vor den Folgen etwas unterließen, was wir als notwendig und heilsam erkannt haben. Nein, wir tun es nicht, weil wir uns sagen: Jene, die im sogenannten Rock des Königs stecken, sind doch nur ein Teil des werktätigen Volkes, und wenn dieses zu der nötigen Erkenntnis in bezug auf das Verwerfliche und Volksfeindliche der Kriege gelangt, dann werden auch die Soldaten von selbst wissen, ohne unsere Aufforderung, was sie im gegebenen Falle zu tun haben.

Sie sehen, meine Herren, unsere Agitation gegen den Militarismus ist nicht so arm und so simplistisch, wie der Herr Staatsanwalt es sich vorstellt. Wir haben so viele und so mannigfache Mittel der Einwirkung: Jugenderziehung – und wir betreiben sie mit Eifer und nachhaltigem Erfolg, trotz aller Schwierigkeiten, die uns in den Weg gelegt werden –, Propaganda des Milizsystems, Massenversammlungen, Straßendemonstrationen …[2] Schließlich, blicken Sie nach Italien! Wie haben die klassenbewußten Arbeiter dort das tripolitanische Kriegsabenteuer[3] beantwortet? Durch einen Demonstrationsmassenstreik[4], der aufs glänzendste durchgeführt wurde. Und wie reagierte darauf die deutsche Sozialdemokratie?

Am 12. November 1911 nahm die Berliner Arbeiterschaft in zwölf Versammlungen eine Resolution an, in der sie den italienischen Genossen für den Massenstreik dankte.

Ja, der Massenstreik! sagt der Staatsanwalt. Gerade hier glaubt er mich wieder bei meiner gefährlichsten, staatserschütternden Absicht gepackt zu haben. Der Staatsanwalt stützte heute seine Anklage ganz besonders

Nächste Seite »



[1] Erste Beilage zum Periodischen Bulletin des Internationalen Socialistischen Bureau, Nr. 9, S. 6 f. – Der nach diesem offiziellen Organ des Internationalen Sozialistischen Büros veröffentlichte Text weicht ab von dem bisher am meisten wiedergegebenen Wortlaut der Stuttgarter Resolution, der sich auf den vom ISB nicht autorisierten deutschen Bericht über den Internationalen Sozialistenkongreß in Stuttgart 1907 stützt.

[2] Punkte in der Quelle.

[3] Im September 1911 hatte Italien einen Krieg gegen das türkische Reich provoziert. Unter Ausnutzung der imperialistischen Gegensätze um Marokko gelang es Italien im Oktober 1912, Tripolis und die Cyrenaica zu annektieren.

[4] Am 29. September 1911, dem ersten Tag des italienisch-türkischen Krieges, war von der Leitung der Sozialistischen Partei ein auf 24 Stunden befristeter Generalstreik für Italien ausgerufen worden, dem in vielen Städten des Landes Demonstrationen und Kundgebungen gegen den Krieg vorausgegangen waren.