Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 346

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kende Instanz, dieselbe Generalkommission der Gewerkschaften. Dasselbe beweisen fortlaufend Äußerungen von Gewerkschaftsführern in den Parteiversammlungen, die sich mit der Berichterstattung vom Jenaer Parteitag befassen. Das typische Beispiel lieferte wohl die Mitgliederversammlung in Bochum, in der Leimpeters und andere Glückliche ihre Weisheit auf die alte Formel: Generalstreik gleich Generalunsinn reduziert und damit alles Nötige zum Problem geliefert zu haben glaubten.

Mit der prinzipiellen Anerkennung des Massenstreiks im Jahre 1905 war also so wenig die Frage aus der Welt geschafft worden, daß wir vielmehr heute vor demselben prinzipiellen Widerstand stehen wie vor acht Jahren. Und niemand hätte dies mehr empfinden sollen als unser Parteivorstand, der sich ja bei der gemeinsamen Herstellung der mißglückten Resolution mit den Gewerkschaftsführern aus nächster Nähe überzeugen mußte, wie sehr der Jenaer Beschluß für sie ein toter Buchstabe geblieben ist.

Doch auch in Parteikreisen war der Elan des Jahres 1905 in den nachfolgenden Jahren merklich verflogen. Die Niederlage der russischen Revolution hatte allenthalben für den oberflächlich Blickenden, der nur die sichtbaren Erfolge schätzt, eine tiefe Depression zur Folge. Die Niederlage der großen Bergarbeiterbewegung im Ruhrrevier wirkte gleichfalls entmutigend nach. Und dazu kam 1907 die erste Wahlniederlage seit Jahrzehnten, die unsere Partei erlitt.[1] Alle diese Zustände zusammen brachten eine Ebbe in der allgemeinen Zuversicht und Kampfstimmung, wie sie in dem lebendigen historischen Pulsschlag der Arbeiterbewegung von Zeit zu Zeit unvermeidlich ist.

Erst seit 1910, unter dem Drängen des imperialistischen Kurses, erwacht wieder allmählich die Kampflust und macht sich das Zurückgreifen auf schärfere Mittel bemerkbar. Die Auseinandersetzungen über das Ungenügende unserer Parteiaktion gegen die Vorstöße des Imperialismus gaben dem Parteitag 1911 sein besonderes Gepräge.[2]

Und es war im Grunde genommen nicht bloß und nicht in erster Linie der Ausfall der preußischen Landtagswahlen[3], sondern der Eindruck der ungeheuren Militärvorlage[4] und das Gefühl der allgemeinen Verschärfung der Situation, was in den letzten Monaten die Frage des Massen-

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[1] Unter der Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow war der Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am 25. Januar 1907 durch eine Hetzkampagne der Reaktion gegen alle oppositionellen Kräfte, besonders gegen die Sozialdemokratie, und durch chauvinistische Propaganda für die Weiterführung des Kolonialkrieges gegen die Hereros und Hottentotten in Afrika gekennzeichnet. (Im Jahre 1904 hatten sich in Südwestafrika die Völker der Hereros und der Hottentotten gegen die Kolonialherrschaft des deutschen Imperialismus erhoben. Der Aufstand, der den Charakter eines Freiheitskrieges trug, endete mit einer verlustreichen Niederlage dieser Völker, nachdem die deutschen Kolonialtruppen drei Jahre lang mit äußerster Grausamkeit gegen sie vorgegangen waren.) Obwohl die Sozialdemokratie die größte Stimmenzahl erzielte, erhielt sie auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.

[2] Auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 10. bis 16. September 1911 in Jena stand die Abwartepolitik des Parteivorstandes im Zusammenhang mit der Marokkokrise im Mittelpunkt der Debatten. – Im Frühjahr 1911 hatte Frankreich den Versuch unternommen, seine Herrschaft auf ganz Marokko auszudehnen und endgültig zu festigen. Dieses Vorgehen nahm die deutsche Regierung zum Anlaß für die Erklärung, Deutschland fühle sich nicht mehr an das Algecirasabkommen gebunden. (Mit dem Algecirasvertrag vom 7. April 1906 war die erste Marokkokrise von 1905 beendet werden. Der Vertrag garantierte Marokko formal die Unabhängigkeit, festigte aber den Einfluß Frankreichs in Marokko, indem er die Polizei des Landes auf fünf Jahre französischer und spanischer Kontrolle unterstellte. Deutschland hatte sich durch seine Abenteuerpolitik außenpolitisch fast völlig isoliert.) Am 1. Juli 1911 entsandte die deutsche Regierung die Kriegsschiffe „Panther“ und „Berlin“ nach Agadir und beschwor durch diese Provokation eine unmittelbare Kriegsgefahr herauf. Das Eingreifen Englands zugunsten Frankreichs zwang die deutschen Kolonialpolitiker zum Nachgeben. Zwischen Frankreich und Deutschland wurde ein Kompromiß geschlossen.

[3] Bei der Wahl der Abgeordneten zum preußischen Abgeordnetenhaus am 3. Juni 1913 hatte die Sozialdemokratische Partei auf Grund des reaktionären Dreiklassenwahlrechts trotz der hohen Stimmenzahl von 775 171 (28,38 Prozent) nur 10 Mandate erhalten, während dagegen beispielsweise die Deutschkonservative Partei bei nur 402 988 (14,75 Prozent) Stimmen 147 Mandate erhielt.

[4] Ende März 1913 war im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10 000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe [dem sogenannten Wehrbeitrag] und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß mit Verweis auf die Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“