Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 345

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/345

mals die Arbeiterbewegung durchdrangen, standen Pate bei dem Jenaer Massenstreikbeschluß. Man braucht nur die große Rede Bebels auf dem Parteitag nachzulesen, um jetzt noch die stark vibrierende Note der revolutionären Entschlossenheit, der größten revolutionären Tradition zu spüren, die die Erörterungen und die Resolution durchdrangen. „Da ist Rußland, da ist die Junischlacht, da ist die Kommune! Bei den Manen dieser Märtyrer solltet Ihr nicht einmal ein paar Wochen hungern, um Eure höchsten Menschenrechte zu verteidigen?“[1] Dies war der Feuerschein höchsten Idealismus, in dem die erste Resolution über den Massenstreik gefaßt wurde.

Doch wäre es verhängnisvoller Irrtum, sich einzubilden, jene Stimmung wäre auch später und auch nur damals schon von allen Kreisen der Arbeiterbewegung geteilt worden. Vergessen wir nicht, daß wenige Monate vor dem Jenaer Parteitag, im Mai desselben Jahres 1905, der Gewerkschaftskongreß zu Köln einen direkt entgegengesetzten Beschluß in Sachen des Massenstreiks gefaßt hatte; dort wurde er als unbrauchbare, ja schädliche Waffe verworfen und nicht bloß seine Propagierung, sondern schon seine Erörterung als gefährliches Spielen mit dem Feuer verboten! Sicher war dies Verbot nicht der breiten Masse der Gewerkschaftsgenossen aus dem Herzen gesprochen – sind sie doch mit der Masse der Parteigenossen identisch, die bald darauf dem Jenaer Beschluß und den Worten Bebels im ganzen Lande zujubelte. Aber der Kölner Gewerkschaftskongreß hatte deutlich gezeigt, wo die schweren Gegensätze für die Idee des Massenstreiks zu suchen sind: in dem bürokratischen Konservatismus der führenden Gewerkschaftskreise. Der Jenaer Parteibeschluß ist damals ausdrücklich gegen die Gewerkschaftsführer angenommen worden, die Rede Bebels war zum größten Teil eine ausgesprochene Polemik gegen die Argumentation des Kölner Gewerkschaftskongresses. Aber die dem Massenstreik feindliche Stellung der Gewerkschaftsführer war damit nicht verschwunden. Sie wagte sich angesichts der entschlossenen Stellung der Partei und der revolutionären Stimmung im Lande nicht an die Oberfläche. Daß sie aber als stille passive Resistenz nach wie vor geblieben ist, das hat mit aller wünschenswerten Klarheit das Korreferat des offiziellen Vertreters der Generalkommission, des Genossen Bauer, auf dem diesjährigen Parteitag gezeigt, das hat auch die Andeutung des Genossen Scheidemann gezeigt, aus der Vorstandsresolution über den Massenstreik sei der „Wille zur Tat“ ausgemerzt worden – offenbar durch die andere mitwir-

Nächste Seite »



[1] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Jena vom 17. bis 23. September 1905, Berlin 1905, S. 305.