Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 339

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bloß nicht bemerkt, daß er uns während 21/2 Stunden zu Zeugen einer Hinrichtung gemacht hat, die er an dem Genossen Wurm vom 26. Juni vollzogen hat. (Heiterkeit und lebhafte Zustimmung.) Am 26. Juni hat in der entscheidenden Fraktionssitzung Wurm, wie mir erzählt wurde, geradezu gegen den Beschluß der Mehrheit getobt. Es sind ihm dabei von seinen jetzigen Gesinnungsgenossen Worte und Schmeicheleien an den Kopf geworfen worden, die ich nicht wiederholen will. Seitdem sind kurze 12 Wochen ins Land gegangen, und aus einem tobenden, radikalen Saulus ist ein staatsmännischer Paulus geworden. (Heiterkeit und „Hört! Hört!“.) Wir haben an Gesinnungswechsel in unserer Partei schon manches erlebt. In wenigen Jahren ist schon so mancher rabiate Rote in eine ganz anders gefärbte, abgeklärte Meinung hineingeraten. Aber einen so radikalen Gesinnungswechsel in 12 Wochen haben wir noch nicht erlebt. („Sehr richtig!“) Wurm hat hier entschieden den Rekord geschlagen. (Zustimmung.) Wenn wir einen Wettlauf der Wandlungsfähigkeit in unseren Reihen vornehmen würden, so müßten alle umgefallenen Genossen für Wurm eine Musikkapelle bestellen und ihm aufspielen lassen: Heil Dir im Siegerkranz. (Heiterkeit und Zurufe: „Zur Sache.“) Zur Sache gehört es, daß die Vorwürfe Wurms gegen unsere Resolution von A bis Z beweisen, daß er sich in solch kurzer Zeit vollständig entfernt hat von dem Verständnis für die elementarsten Grundlagen unserer bisher geltenden sozialdemokratischen Taktik. („Sehr richtig!“ und Widerspruch.) Zunächst der Vorwurf gegen die ersten zwei Sätze unserer Resolution, in denen nichts anderes steht als eine Sache, die für jeden Sozialdemokraten eine Binsenwahrheit sein sollte, nämlich die Tatsache, daß auch durch günstig gestaltete Steuern an der Grundlage der kapitalistischen Ausbeutung auch nicht ein Jota geändert wird. („Sehr richtig!“) Und aus diesen Sätzen glaubt der heutige Genosse Wurm schließen zu müssen: Ja, wenn wir das sagen, dann erklären wir uns für ohnmächtig. Wenn das eine politische Bankerotterklärung der Sozialdemokratie, eine Ohnmachtserklärung ist, so hat sich auch ein Besserer als wir dieses Verbrechens schuldig gemacht. Nämlich vor 50 Jahren Karl Marx. Wurm hat gewußt, daß hier etwas Unbequemes liegt, und ist daher schnell über die Sache hinweggehuscht. Karl Marx sagt über Steuerfragen 1850 in der „Neuen Rheinischen Zeitung“: „Die Steuerreform ist das Steckenpferd aller radikalen Bourgeois, das spezifische Element aller bürgerlich-ökonomischen Reformen. Von den ältesten mittelalterlichen Spießbürgern bis zu den modernen englischen Freetradern dreht sich der Hauptkampf um die Steuern … Die Distributionsverhältnisse, die unmittelbar auf der bürger-

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