Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 330

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ist. – Dann kam die Rede Scheidemanns über den Massenstreik. Ich befürchte, wenn unsere auswärtigen Gäste von der obersten Leitung unserer Partei eine großzügige, tiefeindringende sachliche Behandlung dieses hochwichtigen Problems erwartet haben, wenn sie sich der Hoffnung hingaben, von dem Vertreter des Parteivorstandes eine weitblickende Analyse der politischen und wirtschaftlichen Situation in Deutschland und innerhalb der Partei zu hören, die im Zusammenhang mit dem Massenstreik in Betracht gezogen werden muß, wenn sie erwarteten, feste, klare Richtlinien in bezug auf die nächste Zukunft über unsere taktischen Aufgaben gezogen zu sehen, so fürchte ich, sie sind nicht auf ihre Kosten gekommen. Denn die Rede Scheidemanns in bezug auf den Massenstreik war alles andere als eine ernste, sachliche Betrachtung dieses Problems. Diese ganze Rede war gestimmt auf zwei Noten, erstens auf den Ton des Faustschen Famulus Wagner: Seht, wie herrlich weit wir es auf allen Gebieten gebracht haben, und zweitens auf einen Kampf gegen die Nörgler, gegen die unzufriedenen Kritiker in der eigenen Partei. Wenn man die Ausführungen Scheidemanns hörte, so ist ja der Parteivorstand mit allem in der Partei höchst zufrieden, er findet alles im höchsten Glanze. Ich glaube, die erste Voraussetzung für ernste politische Führer, die dieses Namens wert sind, die Führer einer Millionenpartei, einer Massenpartei wie die unsrige sind, ist ein überaus empfindliches Ohr für alles, was sich regt in der Seele der Massen. („Sehr richtig!“) Nun unterliegt es keinem Zweifel, daß wir jetzt eine tiefgreifende Unzufriedenheit in den Reihen der organisierten Parteigenossen haben. („Sehr richtig!“) Sie brauchen nur in die Versammlungen zu gehen, um das zu hören. Man braucht auch nur die Berichte von den Parteiversammlungen vor dem Parteitag in allen Gegenden Deutschlands zu verfolgen, um zu sehen, daß Redner aus der Masse hier heraustreten und bekunden, daß die Massen der Organisierten förmlich nach einem frischen Luftzug im Parteileben lechzen, daß sie einen frischen, scharfen Ton in unseren Kampf hineingetragen haben wollen, daß sie es satt haben, den Nichtsalsparlamentarismus als das alleinseligmachende Mittel immer angepriesen zu sehen. Aber der Parteivorstand weiß von alledem nichts, und Scheidemann sagt: Ihr sprecht von Unzufriedenheit? Wo sind die Beweise des fehlenden Vertrauens der Massen zu ihren Führern? Solche Unzufriedenheit können ja nur Schwarzseher erblicken, und Schwarzseher duldet der Parteivorstand nicht. (Heiterkeit.) Der Parteivorstand war selbst gezwungen, in seinem offiziellen Bericht und in der Rede Scheidemanns eine ganze Reihe von betrübenden Tatsachen festzustellen. Es wird festgestellt, daß unsere

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