Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 29

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heimen Staatsverträge, die nur eine andre Methode der imperialistischen Kriegführung sind, nur die jeweilige momentane Fixierung des gegenseitigen Kräfteverhältnisses in diesem Kampfe darstellen. Welches politische Kind weiß nicht heute, daß diese Verträge nur dazu gemacht werden, um bei entsprechender Verschiebung der Kräfte gebrochen zu werden? Wo ist bis jetzt ein internationaler Staatsvertrag imperialistischen Charakters, der nicht gebrochen worden wäre? An die Unverrückbarkeit und Unantastbarkeit der internationalen Verträge der kapitalistischen Staaten kann nur glauben, wer keine Ahnung davon hat, daß sich die internationale Lage in ständigem Fluß befindet, daß auch hier Verschiebungen, Entstehen und Vergehen, Entwicklung und Bewegung das Gesetz bilden. Ist doch diese internationale weltpolitische Entwicklung nichts andres als bloß die Kehrseite der inneren Entwicklung des Kapitalismus, auf ihr basiert unser Bestreben zur sozialistischen Umwälzung.

Und nun soll die Sozialdemokratie gerade die Heiligkeit der internationalen diplomatischen Verträge, die stets Ausgangspunkte neuer Gegensätze und Kämpfe sind, zu ihrer Losung machen! Sie soll die kapitalistische Welt zur „Moral“ bekehren!

Doch fragen wir einmal, welche Art Moral und Recht verficht hier eigentlich Bernstein? Nach ihm ist die Algecirasakte das „Recht“, ihre Verletzung ist „Rechtsbruch“. Nun hat Bernstein, der in der Algecirasakte bloß das gleiche Recht aller „Handelsnationen“ in Marokko bemerkt hat, merkwürdigerweise ganz übersehen, daß es außer europäischen Händlern noch einen andern Faktor gibt, der hier auch sozusagen gewisse „Rechte“ hat: Es ist das Volk der Eingeborenen, es sind die Stämme Marokkos, die jetzt rebellieren. Er hat gar nicht bemerkt, daß, indem die Algecirasakte die Souveränität des Sultans von Marokko garantierte, sie damit die Rechte der Eingeborenen mit Füßen trat, daß sie ihnen einen verächtlichen und gemeingefährlichen Blutegel auf den Rücken setzte, der den europäischen „Handelsnationen“ nur dazu dient, den Stämmen Blut abzuzapfen, das ihm nachher in die Taschen der Börsenwölfe ausgepreßt wird. Ja, unser Moralprediger zeigt hier gar laxe Moralbegriffe. Er sagt z. B. kalten Blutes:

„Es kann sich dort (in Marokko) nur um kapitalistische Unternehmungen von Europäern handeln, bei denen Afrikaner als Arbeiter beschäftigt werden. Das Recht, im Susgebiet usw. Pflanzungen und Bergwerke zu betreiben, steht aber deutschen Unternehmern heute schon zu; der Algecirasvertrag spricht ihnen in Marokko das gleiche Recht zu wie Engländern

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