Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 280

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ausschlaggebenden Parteien – das Zentrum und die Liberalen – die feste Überzeugung hatten, daß eine weitere indirekte Belastung der Massen vorerst einfach undenkbar war. Nach dem großen Raubzug der letzten Zolltarifrevision[1] und der letzten „Finanzreform“[2] mußte eine gewisse Pause eintreten. Das sagten auch Freisinnige im „Berliner Tageblatt“:

„Die indirekten Steuern und Zölle erneut heranzuziehen erweist sich deshalb als undurchführbar, weil die Belastung des Volkes damit bereits das zulässige Maß überschritten hat … Darüber bestand bei der erdrückenden Mehrheit des Reichstages keine Meinungsverschiedenheit, daß neue Lasten im wesentlichen nur auf den Besitz gelegt werden konnten.“

Dazu kam noch die Angst vor den Wählern, unser Sieg im letzten Jahre, der Druck der 41/2 Millionen sozialdemokratischer Stimmen. Daß sich aber angesichts der Unmöglichkeit, diesmal neue Lasten dem Volke aufzubürden, die herrschenden Klassen entschlossen haben, in den eigenen Beutel zu greifen, darin kam ein andrer Druck, ein andrer übermächtiger Faktor zum Vorschein: der Riesenschritt des deutschen Imperialismus. In der ersten militärischen Deckungsvorlage aus Besitzsteuern liegt in der Tat ein höchst bedeutsames Symptom, in gewisser Hinsicht ein Wendepunkt und ein Markstein in der politischen Entwicklung Deutschlands, nur in ganz anderm Sinne, als unsre Fraktionsmehrheit es herausgelesen hat. Es zeigte sich hier, daß das Wachstum des deutschen Militarismus nunmehr in ein so rasendes Tempo verfallen ist, daß selbst die unermüdliche indirekte Steuerschraube des Deutschen Reichs mit ihm nicht gleichen Schritt zu halten vermag. Es zeigte sich, daß die Anforderungen der imperialistischen Entwicklung nicht mehr auf die unvermeidlichen ökonomischen und steuertechnischen Pausen und Schranken der indirekten Besteuerung zugeschnitten werden können und daß wir in Deutschland bereits in die Periode eingetreten sind, wo neben der äußersten Anspannung der Verbrauchssteuern, die auf der breiten Volksmasse lasten, eine teilweise Inanspruchnahme der Schichten der Bourgeoisie notwendig geworden ist. Daß in diesem Zusammenhang das Novum der teilweisen Ausdehnung des direkten Steuersystems von den Einzelstaaten auf das Reich, den Hort des deutschen Militarismus, stattgefunden hat, ist gerade der handgreifliche Ausdruck für die Tatsache, daß der finanzpolitische Umschwung, der Beginn der „neuen Ära“ unter den Auspizien des Militarismus, unter seinem Druck und in seinem Sinne stattgefunden hat. Bisher kam das Reich, d. h. der Militarismus, mit Zöllen und Ver-

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[1] Am 14. Dezember 1902 waren im Reichstag ein neues Zollgesetz und neue Zolltarife beschlossen worden, durch die die Agrar- und einige Industriezölle wesentlich erhöht wurden. Die Sozialdemokraten, die mit allen parlamentarischen Mitteln und unterstützt durch eine breite Protestbewegung in ganz Deutschland gegen den Zollwucher gekämpft hatten, wurden durch wiederholten Bruch der Geschäftsordnung des Reichstags bei ihrem Auftreten im Plenum behindert. Die neuen Zolltarife traten am 1. März 1906 in Kraft und brachten der Mehrheit der Bevölkerung eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lebenslage.

[2] Am 10. Juli 1909 war im Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei beschlossen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.