Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 275

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nach Umfang des Erbguts und nach dem Grade der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und sonstigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern.“[1]

Das ist unsre Programmforderung. Was hier formuliert ist, ist entsprechend dem Sinne und Geiste des Programms und aller seiner Teile eine großzügige, umfassende, durchgreifende Reform des Finanzsystems in seinem Wesen, seinen Grundlagen und seinem ganzen Geiste. Hier ist gar keine Rede von direkten Steuern an sich, losgelöst vom ganzen Finanzsystem, als wären sie ein sozialdemokratisches Ideal. Die direkten Steuern erscheinen hier unter doppeltem Gesichtspunkt: erstens in der Gestalt einer gründlichen, allgemeinen, progressiven Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer, die als solche zur mächtigen und reichfließenden Quelle der öffentlichen Mittel wird, zweitens als einzige steuerliche Grundlage des Staatshaushalts. Abschaffung aller indirekten Steuern und Zölle: Dieser letzte Satz des Programmpassus ist die natürliche Ergänzung seines ersten Satzes. Die direkten Steuern sind hier nicht an und für sich, sondern an Stelle der indirekten gedacht.

Es ist also klar, daß unsre finanzpolitische Forderung eine so gründliche Reform des gesamten Charakters der heutigen Finanzwirtschaft des Deutschen Reiches im Auge hat und auf diese Finanzwirtschaft genauso paßt wie unsre Forderung der Miliz auf das heutige Militärsystem oder unsre Forderung der Republik auf das Hohenzollernsche Gottesgnadentum. Das beweist aber nicht, daß unsre finanzpolitischen Forderungen utopisch und ungeeignet sind, unsrer täglichen Praxis im Parlament zur Richtschnur zu dienen; das beweist nur, daß es eben Forderungen des sozialdemokratischen und nicht des freisinnigen Programms sind. Die Verwirklichung dieses Steuerprogramms wird gerade infolge seines durchgreifenden radikalen Charakters – genauso wie die Verwirklichung der Milizforderung, mit der es auch in innigster Verknüpfung steht, aussichtslos unter den heutigen Machtverhältnissen – erst dann zur Tat werden können, wenn das klassenbewußte Proletariat die entscheidende politische Macht im Staate in die Hand genommen hat.

Die Programmforderungen sollen uns aber als Wegweiser und Richtschnur in unserm Tageskampfe dienen. Wir müssen heute schon alles bekämpfen, was ihre Verwirklichung erschwert und verzögert, und alles unterstützen, was sie beschleunigt und anbahnt.

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[1] Revolutionäre deutsche Parteiprogramme. Hrsg. und eingel. von Lothar Berthold und Ernst Diehl, Berlin 1967, S. 85 f.