Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 269

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Durch die zum Teil vortrefflich formulierten und ebenso verteidigten Reformanträge in der zweiten Lesung hat uns die Fraktion Agitationsmaterial in Hülle und Fülle geliefert, und es bleibt nur zu wünschen, daß dieses wertvolle Material für die Massenaufklärung auch vollauf verwertet wird. Die zweite Lesung der Wehrvorlage bildete auch den Glanzpunkt und den Höhepunkt des ganzen drei Monate langen Kampfes. Berücksichtigt muß freilich werden, daß uns dabei Umstände zu Hilfe gekommen waren, die weder im Machtbereich der Fraktion noch in ihrer Berechnung lagen. Die zehn Tage der zweiten Lesung sind uns einzig und allein deshalb zugute gekommen, weil inzwischen der neue Deckungskompromiß[1] zwischen den Liberalen und dem Zentrum perfekt werden mußte. Man ließ uns im Plenum reden, weil und genau so lange, wie die Kuhhändler Zeit brauchten, um hinter unserm Rücken mit ihrem Geschäft fertig zu werden. Hätten unsre Vertreter in der Budgetkommission gegen die Trennung der Wehrvorlage von der Deckungsvorlage gestimmt, dann wäre der Kuhhandel der bürgerlichen Parteien nicht während der Plenarverhandlungen, sondern während einer parlamentarischen Pause abgeschlossen worden. Ob aber dieser Kuhhandel hinter den Kulissen einen Tag oder zehn Tage beanspruchen würde, das konnte kein Mensch im voraus wissen. Am allerwenigsten konnte die Fraktion im voraus auf eine solche Gnadenfrist mit Bestimmtheit rechnen, da sie vielmehr in ihrer Mehrheit umgekehrt darauf rechnete, selbst mit den Liberalen gegen das Zentrum wie gegen die Konservativen die Deckungsfrage zu erledigen. Was uns also bei der zweiten Lesung der Wehrvorlage als Frist für die Agitation im Plenum zugute gekommen ist, war nicht etwa die Frucht der geschickten Taktik der Fraktion, sondern in gewisser Hinsicht ein mehr oder weniger zufälliges Ergebnis des Umstandes, daß sich der taktische Plan der Fraktionsmehrheit zerschlagen hatte. Dies mindert nicht das Verdienst der Fraktion, die jene zufälligen Umstände zum Nutzen der Partei und für ihr Ansehen mit Kraft und Geschick gewendet hat. Es ist aber zur objektiven Einschätzung ihrer Taktik im ganzen durchaus nötig, sich darüber klarzuwerden, daß es nicht diese Taktik war, der wir die ausgiebigen Verhandlungen der zweiten Lesung verdanken. Es kam dies auch alsbald drastisch zum Ausdruck. Die Fraktion nahm es, wie man in den Parteiblättern sagen konnte und wie man jetzt hört, als selbstverständlich an, daß sie nunmehr ebenso für die Hinausschiebung der dritten

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[1] Während der Reichstag in die zweite Lesung der Militärvorlage eintrat, einigten sich die Nationalliberale Partei, das Zentrum und die Fortschrittliche Volkspartei hinter den Kulissen über ein von ihnen annehmbares Besitzsteuergesetz.