Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 268

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gültig gemacht worden sind, so ist damit für uns nicht eine Entschuldigung, sondern nur eine neue Anklage formuliert. Denn alsdann hatten wir erst recht die Pflicht, unser ganzes Verhalten darauf einzurichten, um bei den Massen die gefährliche Illusion zu zerstören, als würden die Kosten des Militarismus nunmehr auf die Schultern der Herrschenden abgewälzt. Alsdann war es Gebot der Selbsterhaltung für uns, sofort mit allem Nachdruck das Interesse der Öffentlichkeit von der Deckungsfrage ab- und der Wehrvorlage zuzuwenden, die finanzielle Seite der Vorlage hinter der politischen verschwinden zu lassen. Nur so konnte das Spiel der Regierung und der bürgerlichen Mehrheit durchkreuzt werden, nicht in dem Sinne, daß wir die Annahme der Militärvorlage hätten verhindern können, wohl aber in dem schwerwiegenderen Sinne, daß wir moralisch, politisch den Sieg des Militarismus sofort in einen Pyrrhussieg verwandelt, ihn zur Revolutionierung der Geister vollauf ausgenutzt hätten. Ist dem aber so, dann verwandelte sich der Hinweis auf die Gleichgültigkeit der Massen infolge der eigenartigen Deckungsart der Militärvorlage in die schärfste Anklage gegen die Fraktion, denn sie hat im weiteren Verlauf der Verhandlungen und namentlich durch ihre Schlußabstimmung so ziemlich alles getan, um die gefährliche Illusion der Massen zu befestigen und dauernd zu erhalten.

Es unterliegt jetzt keinem Zweifel und wird durch Äußerungen aus der Mitte der Fraktion bestätigt, daß ein großer Teil, wohl die Mehrheit unsrer Abgeordneten, gleich nach der ersten Lesung das Schwergewicht ihrer Aktion in die Deckungsfrage verlegen, die Wehrvorlage aber als eine im voraus entschiedene Sache, an der nicht viel mehr zu machen sei, hinnehmen zu müssen glaubte. Damit verband sich bei jenem Teil der Fraktion auch ein bestimmter politischer Plan, der dahin ging, die Verhandlung der Deckungsvorlage von der der Wehrvorlage zu trennen, um im Bunde mit den Liberalen eine Mehrheit gegen den Schwarz-Blauen Block[1] zu bilden und diesem eine Erbschaftssteuer und eine Reichsvermögenssteuer aufzuzwingen.

Daß die Trennung der beiden Vorlagen trotzdem keinen Nachteil von unserm Standpunkt aus zur Folge hatte, uns vielmehr ermöglicht hat, die Wehrvorlage im Plenum vor die breite Öffentlichkeit zu ziehen und agitatorisch auszunützen, ändert nichts an der Verfehltheit der obigen Taktik in ihren Grundlinien und in ihrer Begründung. Die zweite Lesung der Wehrvorlage ist von unsrer Fraktion – das steht außer Zweifel – in glänzender Weise für die Zwecke der Agitation ausgenützt worden.

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[1] Der Schwarz-Blaue Block oder Schnapsblock war eine Gruppierung im Reichstag, die sich im Sommer 1909 aus Vertretern der Deutschkonservativen Partei des ostelbischen Junkertums und der klerikalen Zentrumspartei gebildet hatte.