Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 243

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weitesten Kreise der Partei das Gefühl bemächtigt, daß die Wucht und die Schärfe unsrer Aktion im ganzen nicht völlig auf der Höhe der Aufgabe stehen, daß die Art und Weise, wie die Viermillionenpartei den Provokationen der herrschenden Reaktion auf verschiedenen Gebieten begegnet, nicht ganz dem großen Sieg bei den Reichstagswahlen[1] und den an ihn geknüpften Erwartungen entspricht. Der diesjährige Parteitag wird allem Anscheine nach nicht bloß die laufenden Geschäfte des Jahres in üblicher Weise zu erledigen haben, er wird auch nicht umhin können, gewissermaßen eine Bilanz der von der Partei in den letzten Jahren angewandten Taktik und eine kritische Sichtung der in ihr geäußerten Theorien und Ansichten vorzunehmen. Das Schlagwort von der geduldigen und stillen „Ermattungsstrategie“[2], mit dem man die absichtliche Liquidierung der 1910 begonnenen Massenaktion für das preußische Wahlrecht[3] zu beschönigen suchte, das Schlagwort von dem „neuen Liberalismus“, mit dem man nach der Reichstagswahl trügerische Illusionen in bezug auf die Entwicklung der bürgerlichen Parteien weckte, müssen jetzt alle an der Hand des reichen Erfahrungsmaterials der letzten Jahre auf ihren Wert hin geprüft werden. Die Erfahrungen im preußischen Wahlrechtskampf sind aber die wichtigste und reichste Schatzkammer politischer Belehrung für unsre Partei wie für die Masse des Proletariats im ganzen. Die Schicksale dieses Kampfes stellen geradezu einen Prüfstein für unsre bisherige wie für unsre künftige Taktik dar. Wie die Dinge gegenwärtig liegen, ist es für alle Welt klar, daß die deutsche Sozialdemokratie nun an dem preußischen Wahlrechtskampf die Tüchtigkeit ihrer Waffen, die Brauchbarkeit ihres Organisationsapparats für große politische Aktionen, den Wert ihrer vielgerühmten Disziplin für die Mobilisierung der Massen, mit einem Wort, ihre Fähigkeit zur politischen Offensive erweisen muß.

Daß eine ernste Prüfung der im preußischen Wahlrechtskampf anzuwendenden Taktik dringend notwendig geworden ist, beweisen neuerdings auch taktische Feuerwerke in der Art der Frankschen „revolutionären“ Weckrufe[4], die – unter begeisterter Zustimmung des „Vorwärts – offenbar den Großblock in Baden[5] mit dem Massenstreik in Preußen

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[1] Die Reichstagswahlen wurden am 12. Januar 1912 durchgeführt. Die Sozialdemokratie konnte dabei 4,2 Millionen Stimmen gegenüber 3,2 Millionen im Jahre 1907 erringen und die Zahl ihrer Mandate von 43 auf 110 erhöhen. Sie wurde damit die stärkste Fraktion des Reichstags.

[2] Diese von Karl Kautsky propagierte Theorie besagte, den Kampf des Proletariats nur auf parlamentarischer Ebene zu führen, damit die politischen Machtpositionen der herrschenden Klasse zu untergraben, den Klassengegner zu „ermatten“ und auf friedlichem Wege in den Sozialismus hineinzuwachsen.

[3] Nachdem der sozialdemokratische Parteivorstand, der Geschäftsführende Ausschuß der preußischen Landeskommission und die Redaktion des „Vorwärts“ im März 1910 beschlossen hatten, den Massenstreik nicht im „Vorwärts“ zu erörtern, um angeblich den Elan der Massen nicht zu hemmen, wurde die Wahlrechtsbewegung nach den Demonstrationen im April 1910 abgebrochen, und die Massen wurden auf die nächsten Reichstagswahlen und den parlamentarischen Kampf vertröstet.

[4] Da die Arbeitermassen nach neuen Kampfmitteln drängten, sah sich der Referent der Versammlung, der badische Opportunist Ludwig Frank, gezwungen, den Massenstreik als Kampfmittel für die preußische Wahlrechtsreform anzuerkennen.

[5] Unter dem Vorwand, den reaktionärsten Parteien, den Konservativen und dem Zentrum, eine „aktionsfähige Mehrheit“ entgegenzustellen, hatten die Sozialdemokraten im badischen Landtag 1910 mit den Liberalen einen Block gebildet. Mit diesem „Großblock“, der anläßlich der Landtagswahlen 1913 erneuert wurde, setzten sie sich in Widerspruch zu den Grundsätzen und Beschlüssen der Sozialdemokratischen Partei und unterstützten die Politik der bürgerlichen Regierung.