Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 228

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Anstatt dessen verfiel unser Zentralorgan auf die unglückliche Idee, neue Losungen auf eigne Faust zu improvisieren. Dabei erwies es sich von einer Bescheidenheit, die selbst das berühmte Vollmarsche „Mindestprogramm“ der Eldorado-Reden[1] in den Schatten stellte. Der „Vorwärts“ machte sich am 12. März plötzlich ein Minimalprogramm eines Minimalprogramms, ein kleines Bröckelchen der Mindestforderungen zurecht, das auf die Beseitigung der dreijährigen Dienstzeit und des Einjährigenprivilegs hinauslief.[2] Der ungeheuerlichsten Militärvorlage des Imperialismus gegenüber konzentrierte sich unser Zentralorgan unbegreiflicherweise rückwärts – auf das selige Militärprogramm der Fortschrittspartei aus der preußischen Konfliktzeit vor 50 Jahren![3] Während unsre Fraktion durch den Mund ihres Berichterstatters schon auf dem Stuttgarter Parteitag im Jahre 1898 die Forderung der einjährigen Dienstzeit als das Mindestmaß an militärischem Fortschritt vertrat[4], verfiel das Zentralorgan just angesichts der neuesten Militärvorlage auf die zweijährige Dienstzeit für die berittenen Truppen.

Es konnte denn auch nicht ausbleiben, daß unsre Fraktion diese Anregungen auf sich beruhen ließ. Sie vertrat bei den Debatten im Reichstag am 7. und 8. April die Milizforderung und die einjährige Dienstzeit. Wurde zwar die Losung der Volkswehr, die in unserm Programm und in unsrer Auffassung durch vielfache Zusammenhänge bestimmt ist, diesmal etwas einseitig auf eine kurze Dienstzeit reduziert, so wurde sie immerhin vertreten, und hebt die einjährige Dienstzeit das System der stehenden Heere durchaus nicht auf, so liegt sie jedenfalls auf der Linie der Entwicklung zur Miliz.

Indem aber die Fraktion so der Forderung des Parteiprogramms in einem so wichtigen Moment zum Ausdruck verhalf und dadurch die „Mindestforderungen“ des „Vorwärts“ desavouierte, ließ sie zugleich ihre eigne früher wiederholt vertretene Losung fallen: die famose „Abrüstung“. Auch diese Improvisation, die ein Jahr lang im Reichstag die

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[1] Georg von Vollmar hatte in zwei Reden, am 1. Juni und am 6. Juli 1891, im „Eldorado“-Palast in München von der Sozialdemokratie die Aufgabe ihrer revolutionären Taktik und die Orientierung auf eine sozialreformerische Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft gefordert.

[2] Siehe Eine Mindestforderung. In: Vorwärts, Nr. 60 vom 12. März 1913.

[3] Die Deutsche Fortschrittspartei hatte in ihrem Gründungsdokument vom 6. Juni 1861 die größte Sparsamkeit für den Militäretat im Frieden, die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche Ausbildung der Jugend und die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mannschaft bei zweijähriger Dienstzeit gefordert.

[4] Auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Stuttgart vom 3. bis 8. Oktober 1898 hatte Emanuel Wurm als Berichterstatter der Reichstagsfraktion in Auseinandersetzung mit den reformistischen Positionen die Demokratisierung des Heerwesens und die Einführung des Milizsystems gefordert.