Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 223

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eine solche Versammlung je getan und gekonnt hat, ist, den draußen bestehenden Zustand proklamieren, den draußen schon vollzogenen Umsturz der Gesellschaft sanktionieren und ihn in seine einzelnen Konsequenzen, Gesetze usw. auszuarbeiten. Aber ewig wird eine solche Versammlung impotent sein, die Gesellschaft selber umzustürzen, die sie vertritt.“[1] Wir sind aber an einer Entwicklungsstufe angelangt, wo die dringendsten und unabweisbarsten Abwehrforderungen des Proletariats – das allgemeine Wahlrecht in Preußen, die allgemeine Volkswehr im Reich – einen tatsächlichen Umsturz der bestehenden preußisch-deutschen Klassenverhältnisse bedeuten. Will die Arbeiterklasse heute im Parlament ihre Lebensinteressen durchsetzen, dann muß sie erst „draußen“ den tatsächlichen Umsturz vollziehen. Will sie dem Parlamentarismus wieder politische Fruchtbarkeit verleihen, dann muß sie durch außerparlamentarische Aktionen die Masse selbst auf die politische Bühne führen.

Das letzte Jahrzehnt – mit der Massenstreikresolution in Jena[2] unter dem Eindruck der russischen Revolution, der Straßendemonstrationskampagne im Kampfe um das preußische Wahlrecht vor drei Jahren[3] – zeigt deutlich, daß sich der Übergang von der rein parlamentarischen zur Massenaktion allmählich unbezwingbar Bahn bricht, wenn auch das Bewußtsein der Partei in Deutschland wie anderwärts nur im Zickzack und mit wankelmütigen Rückfällen dieser Bahn folgt.

Das fünfzigjährige Jubiläum des Bestehens der deutschen Sozialdemokratie ist eine stolze, siegreiche Vollendung in der Ausführung des politischen Testamentes Lassalles. Es ist aber zugleich eine Mahnung an das sozialistische Proletariat, sich dessen voll bewußt zu werden, daß nichts dem Geiste Lassalles mehr widerspräche, als in verrosteter Routine und in gewohntem Trott an einem taktischen Programm zäh festzuhalten, das bereits vom Laufe der Geschichte überholt worden ist. Lassalles großes schöpferisches Werk bestand darin, daß er zur rechten geschichtlichen Stunde die richtige Aufgabe des Proletariats erkannt und sie mit kühner Tat zu erfüllen gewagt hat. Was ist heute die rechte Fortsetzung des Lassalleschen Werkes? Nicht, daß das deutsche Proletariat an Lassalles poli-

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[1] Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Hrsg. von Franz Mehring. IV: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels, Stuttgart 1902, S. 38.

[2] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.

[3] Im Frühjahr 1910 hatte sich in ganz Deutschland eine Massenbewegung für die Erringung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts zum preußischen Landtag entwickelt. Rosa Luxemburg verteidigte die Anwendung des politischen Massenstreiks als objektiv notwendiges Kampfmittel gegenüber der Absicht des Parteivorstandes, die Wahlrechtsbewegung in den alten Bahnen des Parlamentarismus zu belassen, um angeblich die Reichstagswahlen 1912 nicht zu gefährden.