Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 222

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Lebensinhalt der Sozialdemokratie während des verflossenen halben Jahrhunderts.

Dieses Programm ist aber auch so ziemlich bis zu jener äußersten Grenze verwirklicht worden, wo nach dem Gesetz der geschichtlichen Dialektik die Quantität in die Qualität umschlagen, wo das bloße unaufhaltsame Wachstum der Sozialdemokratie auf dem Boden und im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus allgemach von selbst über diesen hinausführen muß.

Die kapitalistische Entwicklung Deutschlands wie der gesamten Weltwirtschaft hat heute einen Grad erreicht, demgegenüber die Verhältnisse, in denen Lassalle sein unsterbliches Werk vollbrachte, wie unbeholfene Kindheit erscheinen. Während damals in Europa erst der Rahmen der bürgerlichen Nationalstaaten für die ungehemmte Herrschaft des Kapitals zurechtgezimmert wurde, werden heute die letzten Fetzen nichtkapitalistisch beherrschter Erdstriche von dem imperialistischen Ungestüm zerrissen, das Kapital ist im Zuge, seine Weltherrschaft durch eine Kette blutiger Expansionskriege zu krönen. Der bürgerliche Parlamentarismus war auf dem europäischen Festland schon von der Geburt an aus Furcht vor dem roten Gespenst des revolutionären Proletariats mit Ohnmacht geschlagen. Nunmehr wird er von den eisernen Hufen des zügellos dahinsprengenden Imperialismus zermalmt; er wird zur leeren Schale, wird zum ohnmächtigen Anhängsel des Militarismus degradiert.

Die Sozialdemokratie hat in fünfzig Jahren vorbildlicher Arbeit aus dem nunmehr steinigen Boden so ziemlich herausgeholt, was an greifbarem materiellem Gewinn für die Arbeiterklasse wie an Klassenaufklärung für sie herauszuholen war. Der jüngste, größte Wahlsieg unserer Partei[1] hat jetzt für aller Augen klargemacht, daß eine sozialdemokratische Fraktion von 110 Mann in der Ära der imperialistischen Delirien und der parlamentarischen Impotenz sozialreformerisch wie agitatorisch nicht mehr, sondern weniger herauszuholen imstande ist als früher eine Fraktion von einem Viertel dieser Stärke. Und der heutige Knotenpunkt der innerpolitischen Entwicklung Deutschlands, das preußische Wahlrecht, hat durch seine hoffnungslose Versumpfung alle Aussichten auf eine durch bloßen Druck der Wahlaktionen erzwungene parlamentarische Reform vernichtet. In Preußen wie im Reiche stößt die Sozialdemokratie in ihrer ganzen Macht ohnmächtig an die Schranke, die Lassalle schon im Jahre 1851 in den Worten formulierte: „Nie hat, nie wird eine (gesetzgebende) Versammlung den bestehenden Zustand umstürzen. Alles, was

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[1] Die Reichstagswahlen wurden am 12. Januar 1912 durchgeführt. Die Sozialdemokratie konnte dabei 4,2 Millionen Stimmen gegenüber 3,2 Millionen im Jahre 1907 erringen und die Zahl ihrer Mandate von 43 auf 110 erhöhen. Sie wurde damit die stärkste Fraktion des Reichstags.