Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 218

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mehr kommandieren läßt, wo sie sich wie ein Mann erhebt und sagt: Ich will es nicht, ich tue es nicht! (Lebhafter Beifall.)

Eine Folge der Rüstungsdelirien ist der schmachvolle Niedergang des Parlamentarismus. In Deutschland ist jede bürgerliche Opposition aus dem Parlament verschwunden, es gibt keine Rüstungsvorlage, die nicht von den getreuen Regierungsmamelucken bewilligt würde. Die Regierung braucht nur zu pfeifen, und die Parlamente springen wie die Pudel. Wir arbeiten bei Reichstagswahlen im Schweiße unseres Angesichts, um soviel Vertreter als möglich in den Reichstag zu schicken, wenn es aber einen Arbeiter gibt, der da meint, es genüge, einen Stimmzettel abzugeben, so kann er mir nur leid tun. Im gleichen Maße, in dem mehr Sozialdemokraten in die Parlamente geschickt werden, sinken diese Parlamente immer mehr zu einem Feigenblatt des Absolutismus herab. Als die Chinaexpedition[1] ausgerüstet wurde, waren die Abgeordneten bei Muttern, nachher gewährten die Vertreter des Bürgertums für die schon verausgabten Mittel mit hündischer Beflissenheit Indemnität. In England, wo das Zeremoniell des parlamentarischen Hokuspokus besonders ausgebildet ist, liegen die Verhältnisse genauso, schrieb doch ein englisches Blatt, der dreimal heilige Parlamentarismus ist auf dem besten Wege, den Laden zu schließen. Wie in Deutschland und England ist es auch in Österreich und in andern Staaten: Der Parlamentarismus gerät immer tiefer in den Sumpf. Was wären wir Sozialdemokraten wert, wenn wir unsre Hoffnungen auf den Parlamentarismus setzen wollten? Die Schwerkraft der sozialdemokratischen Politik muß in die Massen verlegt werden, das Parlament bleibt nur noch eine – allerdings bedeutende – Rednertribüne, von der aus die sozialistische Aufklärung erfolgen und die Masse aufgepeitscht werden soll. Daß die Masse handeln kann, wenn es nötig ist, dafür haben wir in der letzten Zeit genug Beweise gehabt. Man sagt uns oft mit den Kassen- und Mitgliedsbüchern in der Hand, wir haben noch nicht genug Mitglieder, die Kassen sind noch zu schwach, um große Aktionen durchführen zu können. O über diese kleinen Rechenmeister! Ich unterschätze nicht den Wert der Organisationen, man kann sie nicht hoch genug schätzen. Aber es wäre höchst falsch, wenn man annehmen wollte, erst müßte der letzte Arbeiter und die letzte Arbeiterin eingeschriebenes Mitglied der Partei sein, ehe der große Marsch gegen den Kapitalismus angetreten werden könne. In Belgien haben erst jetzt 400 000 Mann 10 Tage lang mit verschränkten Armen dagestanden, um politische Rechte zu erobern, wenn ich auch der Meinung bin, daß man sie

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[1] Im Jahre 1900 hatte die deutsche Regierung die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking während des Aufstandes der Ihotuan zum Anlaß genommen, um durch die Entsendung eines Expeditionskorps nach China ihr Vordringen in Ostasien zu sichern. Zusammen mit den Truppen anderer imperialistischer Mächte schlugen die deutschen Interventionstruppen die chinesische nationale Befreiungsbewegung grausam nieder.