Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 205

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kommt, desto stärker die Wirkung und die Aussichten auf den Sieg. Kündigt die Arbeiterpartei drei Viertel Jahre im voraus die Absicht an, einen politischen Streik zu inszenieren, so gewinnt nicht nur sie, sondern doch auch die Bourgeoisie und der Staat vollauf Zeit, sich materiell und psychologisch auf das Ereignis vorzubereiten. Übrigens hatte die lange, emsige Spartätigkeit der belgischen Proletarier, die an sich so bewundernswert in ihrem Idealismus war, die unbequeme materielle Seite, daß sie die ökonomischen Interessen des Kleinbürgertums, der Krämer und Händler, die ganze Zeit über schwer traf, der Schicht, deren Sympathien der Arbeiterschaft am ehesten gehören, während die Großbourgeoisie bei der langen Vorbereitung gerade in hohem Maße dem Schlag entgehen konnte, mit dem sie jeder spontane Massenstreik in erster Linie trifft.

Sodann gehört zur Wirksamkeit jedes politischen Kampfstreiks die Mitwirkung der Beschäftigten in öffentlichen Diensten. Wollten die belgischen Genossen – was sich aus ihrer Absicht eines langen, friedlichen Streiks ergibt – auf das Stillegen der öffentlichen Dienste verzichten, dann nahmen sie ihrem Streik freilich jeden „ungesetzlichen Charakter“, aber auch im voraus die rasche zwingende Gewalt und den Schrecken für die Öffentlichkeit und den Staat.

Mit einem Wort, gerade alle die Eigenschaften des Aprilstreiks, die ihm nach der Absicht der belgischen Partei den methodischen Charakter einer Gewerkschaftsaktion verleihen sollten, haben ihm die Wirksamkeit als politischer Streik in hohem Grade benommen.

Aber noch mehr: Wir haben aus der Geschichte des Wahlrechtskampfes in Belgien gesehen, daß die Parteiführer den Massenstreik eigentlich seit etwa fünfzehn Jahren verpönen, ihn stets abzuschieben, zu verhindern suchen. Im Schlußresultat hat jedoch diese Taktik merkwürdigerweise das gerade Gegenteil bewirkt: Der im Moment des stürmischen Losbrechens immer wieder gebannte Massenstreik ist nun zum ständigen Damoklesschwert – nicht bloß der Reaktion, sondern auch der Partei geworden. Schon seit neun Monaten war das Leben der belgischen Partei durch die Vorbereitungen zum Massenstreik völlig im Bann gehalten. Nachdem im April der Streik auf einen ersten Schatten einer Konzession hin abgebrochen wurde, hat die Partei ihn schon auf dem Parteitag vom 24. April selbstverständlich für die weiteren Schritte in Aussicht stellen müssen. Dieselbe Taktik, die jedes stürmische Treffen der Masse mit der Reaktion verpönte, hat die Massenstreikdrohung zum chronischen Zustand gemacht.

Daß damit in der Masse übertriebene Illusionen in bezug auf die Wirksamkeit des politischen Massenstreiks unwillkürlich genährt werden,

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