Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 174

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seiner Ansichten, hinzustellen. Daß Radek seinerseits Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um sich als das Opfer eines versuchten Justizmordes auszugeben, ist menschlich verständlich. Daß allerlei gekränkte Leberwürste unter den polnischen Studenten und Emigranten im Auslande sowie alle Elemente, denen der polnische Parteivorstand je auf die Hühneraugen getreten ist, ihrerseits, von Radek bestürmt, gern die Gelegenheit ergreifen, um mal in der Öffentlichkeit ihrer „tiefsten Überzeugung“ von der Grundschlechtigkeit der Führer der polnischen Sozialdemokratie Ausdruck zu geben, das ist wiederum nichts Überraschendes und kann jemandem, der die Verhältnisse kennt, je nach dem nur widerlich oder lächerlich vorkommen. Besonders rührend wirkt z. B. der feierliche Schwur des russischen Kronzeugen Radeks, „des greisen Gründers der Sozialdemokratie Rußlands“, Axelrods, und seiner Freunde, die uns da erzählen, daß in der russischen „Parteigerichtsverfahrungspraxis“ keine außerordentlichen Gerichte bekannt seien und daß dort alles so schön „mit weitesten Rechtsgarantien für den Angeklagten“ und allen Formalitäten ablaufe, beinahe wie vor dem englischen Hause der Lords. Dabei weiß jedermann, der in den Dingen nicht ganz unbewandert ist, daß gerade in der Emigrantenwelt der russischen Partei infolge der Fraktionskämpfe leider das wildeste Faustrecht tobt, wovon die bekannte Broschüre Martows[1], eines der Freunde „des greisen Gründers“ (auch ins Deutsche übersetzt), ein ausreichendes Beispiel bildet. Jedermann weiß, daß in jenen Kreisen nicht bloß einzelne, sondern ganze „angeklagte“ Gruppen und Richtungen ohne ordentliches und ohne außerordentliches Gerichtsverfahren einfach von einer gegnerischen Gruppe oder Fraktion in der Hitze des Gefechts für ausgeschlossen aus der Partei und aller Ehre verlustig erklärt werden. Hat es doch diese schöne „Parteigerichtsverfahrungspraxis“, gegen die sich gerade die polnische Sozialdemokratie seit jeher in schärfster Weise wendet, zu guter Letzt dahin gebracht, daß man den „greisen Gründer“ und seine Freunde heute fragen muß, wo denn jene russische Gesamtpartei eigentlich existiere, von der sie reden, und was von ihr außer Trümmern noch übriggeblieben ist?

Ferner weiß jedermann, der die Verhältnisse kennt, daß die jetzigen sechs Kronzeugen Radeks ausgerechnet jene Richtung der russischen Bewegung vertreten, die Radek vor zwei Jahren in der deutschen Parteipresse selbst als die „Liquidatorenrichtung“, d. h. den äußersten opportunistischen Flügel, gekennzeichnet hat. Wer wird sich wundern, daß diese

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[1] L. Martoff: Retter oder Zerstörer? (Wie und wer zerstörte die Russische Sozial-Demokratische Arbeiter-Partei), Paris 1911.