Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 172

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/172

stisch-liberales Bündnis hernieder. Vor zehn Jahren der Bankrott der Blockpolitik in Frankreich in der Schmach des Millerand-Experiment[1]; vor zwei Jahren das offizielle Eingeständnis des Bankrotts der parlamentarischen Illusionen der Parteiführer in Italien und der völligen Zerrüttung der Partei unter ihrem Einfluß[2]; in diesem Jahre im Januar das Fiasko des Stichwahlbündnisses zwischen der Sozialdemokratie und dem Liberalismus in Deutschland[3]; im Februar der Mißerfolg des sozialdemokratisch-liberalen Wahlblocks gegen das Zentrum in Bayern[4]; soeben der Zusammenbruch der zehnjährigen Blockpolitik in Belgien und die groteske Niederlage der vereinigten Opposition im ungarischen Parlament.

Sind der Lehren nicht endlich genug? Die Zukunft der freiheitlichen Entwicklung in allen modernen Staaten beruht einzig und allein auf der Macht des Proletariats. Die Macht des Proletariats aber gründet sich auf sein Klassenbewußtsein, auf die revolutionäre Energie der Massen, die aus jenem Bewußtsein geboren wird, und auf die selbständige, rücksichtslose und konsequente Politik der Sozialdemokratie, die allein jene Energie der Massen entfesseln und zum entscheidenden Faktor des politischen Lebens gestalten kann.

Die Gleichheit (Stuttgart),

22. Jg. 1912, Nr. 20, S. 305-307.

Nächste Seite »



[1] Alexandre-Etienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine sozialreformistische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister gewesen. Dieser erstmalige Eintritt eines Sozialisten in die Regierung eines bürgerlichen Staates führte zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und den Reformisten.

[2] Die reformistischen Führer der Italienischen Sozialistischen Partei, besonders Leonido Bissolati und Filippo Turati, hatten die Politik der liberalen italienischen Regierung unterstützt und waren für die Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie eingetreten. In den Jahren 1911 und 1912 hatte ein Teil dieser führenden Vertreter unter Bissolati offen den Kolonialkrieg gegen die Türkei unterstützt, woraufhin sie im Sommer 1912 aus der Partei ausgeschlossen wurden. Eine weitere Gruppe, die unter Führung Turatis stand und eine Zwischenposition bezogen hatte, wurde aus der Leitung der Partei entfernt. Sekretär der Partei wurde der Führer der Linken, Constantino Lazzari.

[3] Zu den Stichwahlen im Januar 1912 hatte der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit der Fortschrittlichen Volkspartei ein geheimes Abkommen über gegenseitige Wahlhilfe abgeschlossen. Demzufolge sollte die Fortschrittliche Volkspartei in 31 Reichstagswahlkreisen die sozialdemokratischen Kandidaten unterstützen, während der sozialdemokratische Parteivorstand sich verpflichtete, in 16 Reichstagswahlkreisen „bis zur Stichwahl keine Versammlung abzuhalten, kein Flugblatt zu verbreiten, keine Stimmzettel den Wählern zuzustellen und am Wahltage selbst keine Schlepperdienste zu verrichten“. (Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. IV, Berlin 1967, S. 395.)

[4] Fritz Puchta: Die Landtagswahlen in Bayern. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 924–934. — Im Dezember 1911 hatte der Landesvorstand der bayrischen Sozialdemokratie ohne Rücksprache mit den unteren Instanzen und gegen den Willen großer Teile der Mitgliedschaft mit den Liberalen, dem bayrischen und dem deutschen Bauernbund ein Kompromiß für die Landtagswahlen in Bayern abgeschlossen. Trotz dieses Wahlbündnisses konnte das Zentrum bei den Wahlen am 5. Februar 1912 die absolute Mehrheit der Landtagsmandate erobern.