Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 164

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Für den wirtschaftlichen Mechanismus selbst ist jetzt Schulbildung und geistige Intelligenz der Frauen notwendig geworden. Die beschränkte, weltfremde Frau des altväterischen „häuslichen Herdes“ taugt heute sowenig für die Ansprüche der Großindustrie und des Handels wie für die Anforderungen des politischen Lebens. Freilich, auch in dieser Beziehung hat der kapitalistische Staat seine Pflichten vernachlässigt. Bis jetzt haben die gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Organisationen das meiste und Beste für die geistige und moralische Erweckung und Schulung der Frauen getan. Wie schon vor Jahrzehnten in Deutschland die Sozialdemokraten als die tüchtigsten, intelligentesten Arbeiter bekannt waren, so sind heute die Frauen des Proletariats durch Sozialdemokratie und Gewerkschaften aus der Stickluft ihres engen Daseins, aus der kümmerlichen Geistlosigkeit und Kleinlichkeit des häuslichen Waltens emporgehoben worden. Der proletarische Klassenkampf hat ihren Gesichtskreis erweitert, ihren Geist elastisch gemacht, ihr Denkvermögen entwickelt, hat ihrem Streben große Ziele gewiesen. Der Sozialismus hat die geistige Wiedergeburt der Masse der proletarischen Frauen bewirkt und sie dadurch zweifellos auch zu tüchtigen produktiven Arbeiterinnen für das Kapital gemacht.

Nach alledem ist die politische Rechtlosigkeit der proletarischen Frauen eine um so niederträchtigere Ungerechtigkeit, als sie bereits eine halbe Lüge geworden ist. Beteiligen sich doch die Frauen in Massen und aktiv am politischen Leben. Jedennoch die Sozialdemokratie kämpft nicht mit dem Argument der „Ungerechtigkeit“. Der grundlegende Unterschied zwischen uns und dem früheren sentimentalen utopischen Sozialismus beruht gerade darauf, daß wir nicht auf die Gerechtigkeit der herrschenden Klassen, sondern einzig und allein auf die revolutionäre Macht der Arbeitermassen bauen und auf den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung, der jener Macht den Boden schafft. So ist die Ungerechtigkeit an sich gewiß kein Argument, um reaktionäre Einrichtungen zu stürzen. Wenn sich jedoch das Empfinden der Ungerechtigkeit weiter Kreise der Gesellschaft bemächtigt – sagt Friedrich Engels, der Mitschöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus –, so ist das immer ein sicheres Zeichen, daß in den wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft weitgehende Verschiebungen Platz gegriffen haben, daß bestehende Zustände bereits mit dem Fortschritt der Entwicklung in Widerspruch geraten sind. Die jetzige kraftvolle Bewegung der Millionen proletarischer Frauen, die ihre politische Rechtlosigkeit als ein schreiendes Unrecht empfinden, ist ein solches untrügliches Zeichen, daß die gesellschaftlichen Grundlagen

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