Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 148

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Knabe, unbewußt seiner Kraft und seiner Ziele, und noch standen an der Spitze des Liberalismus Männer, die sich bei all ihrer Feigheit und Jämmerlichkeit selbst als Schatten noch neben dem heutigen Geschlecht wie Riesen ausnehmen. Und von diesen zwerghaften Enkeln ihrer verräterischen Großväter, von diesen Deserteuren des Kampfes, die im Verlauf der ganzen späteren Geschichte von Stufe zu Stufe der Schmach und der Erniedrigung gesunken und bis aufs Mark der Knochen korrumpiert sind: von ihnen ausgerechnet sollte heute das deutsche Proletariat eine Waffen­brüderschaft im Kampfe mit der Reaktion erwarten? Heute, wo die Macht und das revolutionäre Klassenbewußtsein der Arbeiter die bürgerliche Welt mit Schrecken erfüllen, wo der Liberalismus von der Höhe seiner historischen Führerrolle ins Jammertal des engen Daseins zwischen die zwei großen Mühlsteine der modernen Geschichte geraten ist: zwischen die Mühlsteine der Arbeit und des Kapitals? Ehe der deutsche Liberalismus von den Toten aufersteht, um die Welt mit dem Waffengeklirr seiner Ruhmestaten zu erfüllen, würden die Märzgefallenen auf dem Friedrichshain in Berlin aus ihren Grüften steigen, um uns das schlimmste Wort ins Gesicht zu schleudern: Ihr habt nichts gelernt und nichts vergessen!

Eine andere wichtige Lehre brachte die Geschichte im Monat März den kämpfenden Proletariern. Am 18. März 1871 ergriff das Pariser Proletariat die Macht in der Hauptstadt Frankreichs, die von der Bourgeoisie verlassen, von den Preußen bedroht war; es errichtete die Herrschaft der glorreichen Kommune. Zwei Monate bloß dauerte das friedliche, segensreiche Walten der Arbeiter am Ruder des Staates, der durch seine herrschenden Klassen in den Strudel verbrecherischer Kriegswirren und vernichtender Niederlagen gestürzt war. Die feige französische Bourgeoisie, die vor dem fremden Feind ausgerissen war, raffte sich schon im Mai auf, um im Bunde mit dem Feind den Kampf auf Tod und Leben gegen den „inneren Feind“ durchzufechten, gegen die Pariser Arbeiterschaft. In der „blutigen Maiwoche“ ging die proletarische Kommune zugrunde in furchtbarem Gemetzel, unter rauchenden Trümmern, unter Bergen von Leichen, unter Ächzen Lebender, die mit Toten begraben wurden, unter trunkenen Orgien der rachedurstigen Bourgeoisie. Ein schmuckloser Rasen an der äußeren Mauer des marmorprunkenden Pariser Friedhofs Père-Lachaise war alles, was in den ersten Jahren von der Kommune geblieben zu sein schien. Aber von diesem stillen Rasen erhob sich bald für die Proletarier beider Welten die große heilige Tradition und die mit dem Blute von Zehntausenden erkaufte Doppellehre: Es gibt keinen Platz für die poli-

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