Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 144

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„entschiedenen linken Mehrheit“ ausgemalt hatte, nicht zur Wirklichkeit geworden sind, sagt er:

„Aber nicht nur Mandate haben wir durch das Stichwahlabkommen gewonnen, wenn auch nicht so viele, als möglich gewesen wäre, wir haben dadurch auch verhindert, daß die Regierung eine feste Mehrheit erhielt. Haben wir nicht jene überragende Position erobert, die uns in Aussicht stand [Hervorhebung – R. L.], so ist es uns doch gelungen, Reaktion und Regierung zur Ohnmacht zu verurteilen.“[1]

So steht zu lesen im Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie vom 6. März 1912. Reaktion und Regierung sind jetzt in Deutschland „zur Ohnmacht verurteilt“! Als uns vor zwei Jahren die Genossen Kolb und Frank ähnliche Wunder über das Großherzogtum Baden erzählten, um damit ihre Haltung bei der Budgetabstimmung zu rechtfertigen, da beriefen sie sich wenigstens auf die „besonderen süddeutschen Verhältnisse“ des Musterländles und auf die unzweifelhafte Tatsache, daß ja die schlimmsten Träger und Äußerungen der deutschen Reaktion: Militarismus, Kolonialpolitik, auswärtige Politik, Zollpolitik, indirekte Steuern, aus dem Gebiet des badischen Landesparlaments ausgeschlossen sind. Jetzt erzählt man uns, im deutschen Reichstag, im ganzen Deutschen Reich sei es uns gelungen, „Regierung und Reaktion zur Ohnmacht zu verurteilen“! Die nächste Militärvorlage und Marinevorlage werden also wohl „ohnmächtig“ in den Papierkorb sinken? Der Kolonialetat wird abgelehnt werden, das nächste Steuerbukett wandert dem „ohnmächtigen“ Herrn Wermuth wieder an die Brust, und Bethmann Hollweg, Kiderlen nebst ihren unverantwortlichen Auftraggebern lassen die Zügel der auswärtigen Politik des Deutschen Reiches aus der „ohnmächtigen“ Hand entgleiten, worauf der Imperialismus seinerseits in Ohnmacht fällt. Wir wissen nicht, was man sich eigentlich in den Kreisen unsres Parteivorstands und Zentralorgans bei solchen Äußerungen denkt, jedenfalls aber möchte man unwillkürlich dabei den Seufzer ausstoßen: Behüte uns das gütige Schicksal davor, daß solche gefährlichen und verwirrenden Illusionen in den Parteikreisen Glauben und in den Massen Eingang finden sollten! Und in diesen phantastischen Vorstellungen, die dem Abkommen des Parteivorstands zugrunde lagen, die sich an dasselbe jetzt noch, nach seiner Niederlage, knüpfen, sehen wir die fatalste Seite des Vorkommnisses. Ein vereinzelter taktischer Mißgriff kann, wenn er rechtzeitig erkannt wird, für die Zukunft vermieden werden. Aber solche allgemeinen politischen Illusionen über die Wunderwirkungen der parlamentarischen

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[1] Unser Stichwahlabkommen. In: Vorwärts, Nr. 55 vom 6. März 1912.